Inflation
«Der Gegenwert eines US-Dollars betrug 630 Milliarden Mark»

 Hyperinflation von 1923  | Foto: epd-bild/Tim Wegner
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1923 wütete die Hyperinflation in der Weimarer Republik. Ein württembergischer Pfarrer hat im Archiv seiner Gemeinde geforscht, was das für den Alltag der Menschen damals bedeutete. Dabei ist er auf Erstaunliches und Aberwitziges gestoßen.

Von Matthias Pankau (epd)

Die Deutschen ächzen derzeit unter der Inflation von über sechs Prozent. Mancher Zeitgenosse zieht Parallelen zu den Ereignissen vor 100 Jahren. Vor solchen Vergleichen warnt Thomas Mann aus Stuttgart. Der 59-Jährige ist evangelischer Pfarrer und Hobby-Historiker. «Die Situation damals war eine komplett andere.
1923 war man mitunter auch als Milliardär ein armer Mann», sagt er. «Denn was man an einem Tag verdiente, reichte oft schon am nächsten nicht mehr, um einen Laib Brot zu kaufen.»

Mann hat sich intensiv mit der Zeit der Hyperinflation in der Weimarer Republik beschäftigt - und dafür viel Zeit im Archiv seiner ehemaligen Gemeinde in Stuttgart-Stammheim verbracht. Im Protokoll der Kirchengemeinderatssitzung vom 6. Oktober 1923 heißt es nüchtern: «Nach dem heutigen Stand betragen die Gesamteinnahmen 1923 höchstens 1 Milliarde, die Ausgaben zusammen 46 Milliarden.»

«Diese astronomischen Summen sind der traurige Höhepunkt einer Entwicklung, die bereits mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 begann und sich 1923 rapide beschleunigte», sagt der Theologe. Mit dem Ende des Krieges 1918 habe die Mark bereits offiziell mehr als die Hälfte ihres ursprünglichen Wertes verloren. Im Oktober 1922 hatte sie noch ein Tausendstel ihres Wertes von 1914. «Und am 12. November 1923 betrug der Gegenwert eines US-Dollars nach dem amtlichen Wechselkurs 630 Milliarden Mark», weiß Mann.

Auch die evangelische Kirchengemeinde in Stuttgart-Stammheim konnte sich diesen Entwicklungen nicht entziehen. Im Sitzungsprotokoll vom 28. Juni 1922 ist zu lesen, dass offenbar immer weniger Mitglieder des Kirchenchors dazu bereit sind, bei Beerdigungen zu singen: «Von verschiedenen Seiten wird darauf hingewiesen, dass eben die Bezahlung von 5 Mark in keinem Verhältnis stehe zu der Zeitaufwendung.»

Deshalb beschloss der Kirchengemeinderat zunächst eine Erhöhung auf 15 Mark pro Sänger, wenige Monate darauf auf 150 Mark. Das Gremium hielt aber fest, dass der «Leichenchor» künftig nur noch auf Wunsch zahlungskräftiger Trauerfamilien auftreten solle. Ansonsten müsse bei Trauergottesdiensten auf den Gemeindegesang zurückgegriffen werden. Auch bei Brautpaaren machte die Gemeinde Abstriche: Sie bekamen aufgrund der galoppierenden Inflation nur noch dann eine Traubibel überreicht, wenn sie sie selbst bezahlten.

Zu einem lokalen Politikum entwickelte sich laut Mann damals die Entlohnung des Mesners. Seit 1905 galt die Regelung, dass die bürgerliche Gemeinde einen jährlichen Personalkostenersatz für das im Interesse der Kommune erforderliche Läuten und den Unterhalt der Kirchenglocken in Höhe von 281 Mark leistete. Aufgrund der massiven Geldentwertung beschloss die Kirchengemeinde 1923, die Kommune zu bitten, sich zu 50 Prozent an den tatsächlichen Kosten zu beteiligen. Das stieß jedoch auf heftigen Widerstand.

«Insbesondere wurde ins Feld geführt, dass die Kirche den Ausgetretenen das Grabgeläut verweigere», ist in den Chroniken der Gemeinde nachzulesen. Und weiter: «Es wurde auch die Drohung ausgesprochen, dass die Kirchenaustrittsbewegung sofort neu aufleben werde, sollte die Mehrheit des Gemeinderats die Sache doch bewilligen.» Die Abstimmung wurde schließlich verschoben.

Mit dem Ende der sogenannten Ruhrkrise und der Einführung der Rentenmark Ende 1923 beruhigten sich sowohl die wirtschaftlichen als auch die innenpolitischen Verhältnisse Deutschlands. «Bei der Währungsreform damals gab es für 1.000 Milliarden Papiermark eine Rentenmark», berichtet Thomas Mann. Für dieses neue Geld waren Produzenten aber auch endlich wieder bereit, ihre Waren abzugeben.

Autor:

Katja Schmidtke

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