Orthodoxie
"Man tritt die eigene Position mit Füßen"

Foto: Thomas Klitzsch

Er ist einer der besten Kenner der Orthodoxie im deutschen Protestantismus: Johann Schneider, Regionalbischof der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Im Gespräch mit Benjamin Lassiwe nennt er das gegenwärtige Verhalten der Russisch-Orthodoxen Kirche schlicht eine "Katastrophe".

Wie schätzen Sie die Situation der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) ein?
Johann Schneider: 
Mit einem Wort: Eine Katastrophe. Das Moskauer Patriarchat schadet sich und der Orthodoxie ganz massiv. Die Grundsätze, die man sich selbst im Jahr 2000 in Moskau bei der Jubiläumssynode in einer neuen Sozialdoktrin gegeben hat, tritt die Kirchenleitung derzeit mit Füßen. Sie werden grob missachtet.

Welche Grundsätze waren das denn?
In der russisch-orthodoxen Soziallehre, die es auch in einer deutschen Übersetzung von der Konrad-Adenauer-Stiftung gibt, geht es unter anderem um das Verhältnis von Staat und Kirche, die Rolle der Nation und auch um Krieg und Frieden. Einen Angriffskrieg verurteilt die Russisch-Orthodoxe Kirche darin! Wenn man das heute liest, wäre es ein Leichtes, einfach nur aus dem damals einstimmig beschlossenen Dokument zu zitieren. Und weil die Leitung der Russisch-Orthodoxen Kirche schweigt und den Angriffskrieg damit indirekt befürwortet, stößt sie die Treuesten ihrer Mitglieder vor den Kopf.

Wie kann es soweit kommen?
Im Grunde funktioniert die ROK als Kirche nach dem Modell Peters des Großen. Ein preußisch-protestantisch gedachtes System: An der Spitze steht der Zar, also Putin. Und die Kirche ist ein System von Zahnrädchen, die das ganze nach unten weitergeben. Das widerspricht allen orthodoxen Verständnissen von „Symphonia“, aber im Grunde genommen ist es das System, in dem die orthodoxe Leitung in Moskau denkt.

Das heißt, die Kirche wird sich nicht gegen Putin stellen?
Die Leitung der Kirche wird das nicht tun. Im besten Falle gibt es vorsichtige, deutende Äußerungen. Dass sich die Kirche gegen die Staatsführung stellt, ist in diesem System überhaupt nicht denkbar. Wie die Predigt von Kyrill zum Sonntag der Vergebung am Beginn der Fastenzeit auch deutlich zeigt. Darin wird der politische Krieg Putins gegen die Ukraine geistlich überhöht als Kampf gegen die sündhaften Mächte des Westens und damit als „heiliger“ Krieg legitimiert. Es gibt natürlich Widerstand bei Einzelnen Priestern und Laien. Und sicher schadet das der Glaubwürdigkeit der Kirche. Denn auch in Russland gibt es Menschen, die jetzt sagen: Jetzt müsste sich die Kirche eigentlich gegen den Krieg äußern.

Sie sprachen von den „Treuesten der Treuen“. Wer ist das denn?
Das sind einfache Leute, alte und junge Mütter und wenige Väter, die den Gottesdienst besuchen. Eher die Armen. Menschen, die die Kirche als Ort des Heils aufsuchen. Die haben traditionell einen Hang dazu, unpolitisch zu sein. Nichts desto trotz gibt es Priester, die einen Aufruf gegen den Krieg unterzeichnet haben und das Thema in ihren Predigten ansprechen – auf das Risiko hin, dass sie dafür vor Gericht kommen. Was ich nicht weiß, ist, was die in der Armee aufgebaute orthodoxe Militärseelsorge in diesen Tagen macht. Sind die Priester mit an die Front gegangen, oder sind sie in den Kasernen geblieben? Ich habe bislang nichts von diesen Priestern gehört.

"Viele Menschen haben Angst"

Was bedeutet dieses Verhalten der Russisch-Orthodoxen Kirche für die Ökumene?
Für die Ökumene bedeutet das eine Fortsetzung der Entfremdung der ROK, die wir schon länger beobachten. Ökumenisch gesehen begibt sich die ROK in die Bedeutungs- und Belanglosigkeit. Wobei das nicht nur an der Russisch-orthodoxen Kirche liegt: Seit dem Ende der Amtszeit von Wolfgang Huber als EKD-Ratsvorsitzendem erlahmte das Interesse daran, mit der ROK inhaltlich strittige Themen wie Menschenrechte und Menschenwürde zu diskutieren. Es gab aber freundliche Begegnungen in Rostov am Don und in München.

Halten Sie denn eine weitere Ökumene mit der ROK in Deutschland für zielführend?
Innerhalb der Orthodoxie in Deutschland isoliert sich die ROK ja auch: durch die Auseinandersetzungen zwischen dem Patriarchat in Moskau und dem Patriarchat in Konstantinopel und dadurch, dass Metropolit Augoustinos der Vorsitzende der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland ist, nehmen die Moskauer ja an keinen offiziellen Sitzungen mehr teil. Als Co-Vorsitzender der Internationalen Dialogkommission des Lutherischen Weltbundes mit allen orthodoxen Kirchen stelle ich fest: auch an diesen Treffen nimmt die Russisch-Orthodoxe Kirche nicht teil. Deswegen wird sich hier wohl nicht viel ändern. Aber in den Gemeinden der ROK wird sich einiges ändern...

Inwiefern?
In den Gemeinden der ROK gibt es einen großen Teil an Menschen, die ethnische Ukrainer sind. Auch viele Priester des Moskauer Patriarchats kommen aus der Ukraine. Die müssen jetzt Farbe bekennen. Denn die Ukraine ist eines der Hauptgebiete der slawischen Orthodoxie. Dort konnte durch die Gebiete, die in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg zu Polen gehörten und die relativ kurze Besatzungszeit der Nationalsozialisten, Priesternachwuchs ausgebildet werden. Das ist eines der historischen Kerngebiete dieser Kirche.

Glauben Sie, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche zur ÖRK-Vollversammlung nach Karlsruhe anreist?
Das ist schwer vorherzusagen, aber ich glaube das eher nicht. Die Zusammenarbeit der ROK mit dem ÖRK ist schon lange auf ein Minimum reduziert. Natürlich war die ROK immer politisch denkend: Wenn es politisch opportun wäre, seine Stimme zu erheben, würde man sicher jemanden schicken.

Die Weltsynode in Karlsruhe

Was sollte denn die EKD nun tun?
Ich weiß nicht, welche Kontakte die EKD jenseits des Offiziellen noch pflegt. Früher wurden trotz der Differenzen vertrauliche Beziehungen auf informeller Ebene gepflegt. Wenn es die noch gibt, sollte man diese Kontakte fortsetzen. Man sollte die Kanäle, zumindest etwas und zumindest zu kritisch gesinnten Pfarrern und Professoren, offenhalten. Kyrill ist ja relativ isoliert, auch in seiner eigenen Kirche.

Und was kann die EKM machen?

Wir haben keine eigenen Kontakte zur Russisch-Orthodoxen Kirche in Moskau, nur zu Gemeinden hier vor Ort. Aber wir haben eine alte Partnerschaft zur Polnisch Orthodoxen Kirche – einer Kirche, an die nun auch viele orthodoxe Flüchtlinge aus der Ukraine andocken. Dieser Kirche stellen wir heute schon Mittel für die Flüchtlingsunterbringung zur Verfügung. Diese Beziehung müssen wir stärken.

"Militärausgaben sind tote Ausgaben"
Autor:

Online-Redaktion

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