Zuversicht
Güldne Sonne voll Wonne

Foto: Yingyaipumi – stock.adobe.com

Täglich ein Foto des Sonnenaufgangs, seit Beginn der Pandemie im März 2020. Das schenkt Frieden und Hoffnung. Ist das kitschig? Nur auf den ersten Blick.

Von Martin Vorländer

Es war früh am Morgen, viertel nach sechs, Montag, 23. März 2020. Am Tag zuvor hatte die Bundesregierung die Kontaktsperre verfügt und den Lockdown des Landes verkündet. Ich war mit unserer Hundedame Ginger für den Morgenspaziergang draußen und merkte: Ich brauche jetzt etwas, das mir inneren Halt gibt.
Da ging die Sonne auf. Das Licht flutete das Land. Wunderschön und unberührt davon, welcher Sturm an Angst gerade in mir wütete. Das Virus, der Ausnahmezustand drückten mich nieder. Die Sonne zog mich innerlich nach oben. Auch wenn ich nicht schlafen konnte in der Nacht – hier kam die Sonne und ein neuer Tag.
Ich musste an viele Bibelstellen und Gesangbuchlieder denken, die die Aufwärtskraft der Sonne beschreiben, bejubeln, besingen. An diesem Morgen war es für mich dieser Liedvers: „Die güldne Sonne voll Freud und Wonne bringt unsern Grenzen mit ihrem Glänzen ein herzerquickendes, liebliches Licht. Mein Haupt und Glieder, die lagen darnieder; aber nun steh ich, bin munter und fröhlich, schaue den Himmel mit meinem Gesicht.“ (EG 449)
Jedes Wort stimmte für mich an diesem Morgen. Ich fühlte mich an der Grenze. Die Sonne ließ ihr herz-erquickendes Licht darauf scheinen. Ich hatte darnieder gelegen. Aber! Das Aber war stark. Aber nun steh ich und schaue den Himmel mit meinem Gesicht.
Ginger, meine Hundedame, hatte es mittlerweile aufgegeben zu hoffen, wir würden bald weitergehen. Sie hatte sich im Gras gelagert, schaute mich erwartungsvoll an, während ich mit meinem Smartphone den Sonnenaufgang aufnahm und diesen Gesangbuchvers dazu sprach.
Seitdem nehme ich den Sonnenaufgang jeden Morgen auf und spreche dazu einen Bibelvers, eine Liedstrophe, ein Gedicht oder einen Songtext, der mir an diesem Tag Zuversicht gibt. Das Video poste ich und schicke es an Freunde. Ginger und ich, wir sind die Sonnenaufgangs-Reporter. Wir bringen anderen den Sonnenaufgang, die sich noch unter der Bettdecke räkeln oder den ersten Kaffee trinken.
Die Sonne gibt mir Zuversicht in der Krise. Sie geht auf, am einen Tag unverhüllt, am anderen noch etwas schüchtern hinter Wolken. Aber da. Und aufsteigend. Das ist für mich Zuversicht. Das, was mich nach oben zieht, was mich aufschauen lässt, was mich aus der Enge der Ängste befreit, hinein die Weite des Morgenrots.
Kitschig, könnte man einwenden. Aber Zuversicht ist kein Eiapopeia, das die vorhandenen Probleme ausblendet oder verleugnet. Zuversicht ist die Kraft für alle, die nicht an der Welt verzweifeln, aber auch nicht so tun, als wäre sie heil. Im Wort Zuversicht steckt das Sehen, das Hinschauen. Ich fasse ins Auge, was Anlass zur Sorge gibt. Aber es kommt darauf an, ob ich mich allein auf das Schlechte fixiere. Dann verliere ich aus dem Blick, was mir Mut gibt. Die erste Silbe von Zuversicht erinnert mich daran, dass mir dieser Mut zukommt. Ich kann ihn nicht immer aus mir selbst schöpfen. Aber er stellt sich ein. Er findet sich. Er geht mir auf, wie die Sonne aufgeht.
Wer oder was gibt Ihnen Zuversicht? Vielleicht etwas davon: der Glaube, dass Sie das, was Sie nicht aus eigener Kraft bewältigen, in die Hand Gottes legen können. Die Erfahrung: Es gab schon ganz andere Situationen, bei denen Sie dachten: Wie soll ich das schaffen? Und dann haben Sie doch die Kraft dafür bekommen. Oder andere Menschen, die Zuversichts-Bringer für Sie sind und deren Gegenwart Sie stärkt.
Zuversicht führt einen auch an die Schmerzgrenze. Sie wäre herzlos, wenn sie die bittere Wirklichkeit nicht sehen würde. In der Bibel verkörpert Hiob diese Erfahrung. Er verliert auf einen Schlag seine Kinder, sein Hab und Gut, seine Gesundheit. Vom vielbeschworenen „Licht am Ende des Tunnels“ gibt es hier keinen Schimmer. Hiob sagt, wie es ist: „Ich wartete auf das Gute, und es kam das Böse; ich hoffte auf Licht, und es kam Finsternis.“ Das ist die Realität, mit der viele Menschen leben müssen. Da hilft erst einmal kein Suchen am Horizont nach dem Morgenrot.
„Mein Haupt und Glieder, die lagen darnieder; aber nun steh ich.“ Aber! Zuversicht ist beharrlich. Sie weiß, dass sie dranbleiben muss, bis sie dem Sonnenaufgang den Satz abgerungen hat: „Aber nun steh ich, bin munter und fröhlich, schaue den Himmel mit meinem Gesicht.“
Jakob von Uexküll, der Begründer des Right Livelihood Award, der auch alternativer Nobelpreis genannt wird, sagt: Wenn er auf den Zustand der Welt schaut, könne er kein Optimist sein, sondern müsste Pessimist werden. Das will er nicht. Er nennt sich stattdessen einen „Possibilisten“. Also jemanden, der die Probleme sieht und an die Möglichkeit ihrer Lösung glaubt. Im weiteren Sinne sind Christen Possibilisten. Sie glauben: Gott macht das Unmögliche möglich. Gott lässt die Sonne aufgehen über unsern Grenzen mit ihrem Glänzen und bringt uns ein herzerquickendes, liebliches Licht. Jeden Sonnenaufgang neu.

Autor:

Online-Redaktion

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