Vorgestellt
Neuer Blick auf Dorothee Sölle

Von Ferenc Herzig

Der erste Satz zieht in den Bann: „Der Himmel war grau, aber die Stimmung war gut." Ein wirklich guter erster Satz in einem lesenswerten Buch, der aber gleichzeitig auch in die Irre führen kann. Jedenfalls diejenigen, die einfach ein Buch über Dorothee Sölle lesen wollen. Denn es ist, jedenfalls im ersten Drittel, zugleich ein Buch über Dorothee Sölle und über den Autor und seine Bezüge zu ihr.
Der Klappentext verheißt eine Reise mit dem Autor als Reiseführer. Diese beginnt eben unter grauem Himmel und bei guter Stimmung auf dem Weg zum Friedhof, auf dem Sölle begraben liegt, und zu ihrem Geburtshaus. Und in die Schweiz zu ihrem zweiten Ehemann Fulbert Steffensky.
Wer mehr über Dorothee Sölle als über Konstantin Sacher wissen will, wird nicht enttäuscht. Das Genre des journalistischen Essays beginnt im zweiten Kapitel, sich an den Werken von Dorothee Sölle entlang Schneisen durch das Dickicht von „Person und Werk“ zu bahnen – angefangen bei ihrem ersten mit ihrem damaligen Mann Dietrich Sölle publizierten Aufsatz "Dekomposition" bis zu ihrem postum veröffentlichten Fragment "Mystik des Todes".
Entlang dieser Reise erfährt man Aufregendes und Unbekanntes: Etwa, wie es in den 1960er-Jahren um die großen Verlage wie Vandenhoeck & Ruprecht und Suhrkamp stand, und warum sie Sölles "Stellvertretung" nicht abdrucken wollten. Sacher öffnet Korrespondenzen; ebenso gewährt er Einblicke in Sölles Habilitationsverfahren.
Sacher hat ein Buch geschrieben, in dem Dorothee Sölle 20 Jahre nach ihrem Tod neu zugänglich wird, als Theologin ihrer Zeit. Der Leser begleitet sie auf ihrem Weg aus gutsituierter Professorenfamilie entlang existenzialistischer, politischer, christozentrischer und postchristlicher sowie professoraler Lebensstationen.
Dabei spart er nicht mit Kritik, im Gegenteil: An Heiligenverehrung ist ihm nicht gelegen. Es ist zugleich die ungeschützte Subjektivität, mit der Sacher schreibt, die dieses Buch zu einem Ausnahmebuch zumal in einem an Sölle-Büchern eher armen Jahr 2023 macht: Nicht nur, dass man es an einem Sonntagnachmittag einfach „weglesen“ kann. Vor allem bietet Sacher in seinem Buch über Sölle eine Mischung aus Provokation und Einfühlsamkeit, mit der er Anteil gibt an ihrem Leben, über eine bloße Bücherschau hinaus.

Sacher, Konstantin: Dorothee Sölle auf der Spur. Annäherungen an eine Ikone des Protestantismus, EVA Leipzig, 164 S., ISBN 978-3-374-07425-9; 22,00 Euro

Autor:

Online-Redaktion

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