Frankreich
Das Schweigen gebrochen

Aussöhnung in zweiter Generation: Françoise Kérandel (v. l.), Lokalhistoriker Gildas Saouzanet, Yvonne Kérandel, Christoph Sodemann und Psychoanalytiker Peter Pogany-Wnendt in der St. Remberti-Gemeinde Bremen
  • Aussöhnung in zweiter Generation: Françoise Kérandel (v. l.), Lokalhistoriker Gildas Saouzanet, Yvonne Kérandel, Christoph Sodemann und Psychoanalytiker Peter Pogany-Wnendt in der St. Remberti-Gemeinde Bremen
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80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges sprechen Nachkommen von Opfern und Tätern über Traumata, Schuld, Scham und Aussöhnung. Ausgangspunkt ist ein Wehrmachtsverbrechen in der Bretagne.

Von Dieter Sell

In den Erzählungen des ehemaligen Luftwaffen-Offiziers klang es wie ein gefährliches Kriegsabenteuer: Als Pilot im Zweiten Weltkrieg steuert Oberleutnant Kurt Sodemann, Vater des Bremer Journalisten Christoph Sodemann, ein deutsches Kampfflugzeug über Brest und bombardiert Schiffe der französischen Kriegsmarine – bis seine JU88 von französischer Flak angeschossen wird. Der linke Propeller ist getroffen. 20 Kilometer von Brest entfernt schafft Sodemann eine Notlandung auf einem Acker beim Dorf Plouguerneau.

Bauern kommen und umstellen das Gebüsch, aus dem die vierköpfige Crew mit weißen Taschentüchern kriecht. Sie werden umringt, beschimpft, geschlagen, schließlich festgenommen. Das sei nicht schön gewesen, erzählt Kurt Sodemann später seinem Sohn am Esstisch. Mehr nicht. Tatsächlich geht es nach der Notlandung mit großer Dramatik weiter. Denn schon am nächsten Tag, am 19. Juni 1940, besetzt eine Panzerdivision der Wehrmacht die Bretagne. Sodemann und seine Crew werden befreit.

Vor drei Jahren stieß sein Sohn im Internet auf ein Schwarz-Weiß-Foto des Flugzeugwracks – und auf die ganze Geschichte. Dokumentiert hat sie der bretonische Lokalhistoriker Gildas Saouzanet. Er fand heraus, dass direkt nach der Besetzung Wehrmachtssoldaten in Plouguerneau nach den Einwohnern suchen, die die deutsche Crew attackiert hatten. Zwei Bauern werden verhaftet: Jean-Marie Kérandel und Jean Balcon. Dabei waren sie diejenigen, die nach der Notlandung die wütenden Bauern beruhigt hatten.

Wer deutsch-französische Begegnungen fördert

Am 22. Januar 1963 unterzeichneten Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) und der französische Staatspräsident Charles de Gaulle im Pariser Élysée-Palast eine «Gemeinsame Erklärung» und den «Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit» - kurz Élysée-Vertrag. Das Ziel: Aus ehemaligen Feinden sollten Freunde werden. Neben Städtepartnerschaften, Vereinen und Verbänden sind es vor allem zwei Organisationen, die das umsetzen:

JUGENDWERK
Die Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerkes mit Sitz in Berlin geht auf den Élysée-Vertrag zurück. Das DFJW fördert Programme für junge Menschen, von Kindersprachkursen über Schulaustausch bis hin zu mehrmonatigen Auslandsaufenthalten. So sollen Verbindungen ausgebaut und das Verständnis füreinander vertieft werden. Gut 60 Jahre nach seiner Gründung sind sich nach eigenen Angaben fast zehn Millionen junge Menschen aus Deutschland und Frankreich bei über 380.000 Programmen begegnet.

BÜRGERFONDS
Der Deutsch-Französische Bürgerfonds wurde 2020 gegründet und fördert alle, die sich aktiv für eine starke europäische Zivilgesellschaft einsetzen. Im Fokus stehen Projekte, die Austausch und Begegnungen über Generationen und Grenzen hinweg ermöglichen. Seit April 2020 wurden laut Bürgerfonds mehr als 3.500 Projekte unterstützt. Die Arbeit setzt das Deutsch-Französische Jugendwerk um. Unter der Adresse www.buergerfonds.eu wird beschrieben, wie Anträge funktionieren.

Die Deutschen wissen das, wollen aber ein Exempel statuieren. Doch Kérandel und Balcon schweigen. Am 23. Juni erlässt ein Offizier der deutschen Panzerdivision, im Hauptberuf Amtsrichter, ein Feldurteil: Kérandel wird zum Tode verurteilt und am 28. Juni 1940 in Brest erschossen. Er war 57 Jahre alt und Vater von acht Kindern. Seine letzten von einem Priester dokumentierten Worte waren: «Ich bitte Gott um Vergebung, ich vergebe allen. Ich sterbe für Frankreich, für die Religion, und für die Freundschaft zwischen allen Völkern.» Balcon muss zu zwölf Jahren Haft nach Deutschland. Er kehrt nach Kriegsende als gebrochener Mann zurück.

Ein Wehrmachtsverbrechen, sagt Christoph Sodemann: «Verdrängt und verschwiegen.» Im März dieses Jahres reist er nach Plouguerneau, begegnet Nachfahren von Jean-Marie Kérandel. Im Sommer dann der Gegenbesuch: Zwei Enkelinnen des Getöteten, Yvonne und Françoise Kérandel, sind zu einem Treffen in die Bremer Remberti-Gemeinde gekommen. Begleitet werden sie von dem Psychoanalytiker Peter Pogany-Wnendt. Die emotionalen Spuren des Krieges seien in den Nachkommen bis heute zu spüren. «Um weiterleben zu können, mussten die Opfer das Erlebte im Innenleben abkapseln. Sie vergruben es in den Tiefen ihrer Seelen.» Bei der Diskussion betont Yvonne Kérandel: «Dieses Treffen beweist, dass Freundschaft zwischen unseren Völkern möglich ist.»

Christoph Sodemann erinnert sich noch gut an seine Reise in die Bretagne: «Ich wollte der Familie Kérandel sagen, wie leid mir dieses Unrecht tut und dass ich ihren Schmerz verstehen kann.» Wirklich begriffen habe er erst in Plouguerneau, wie Generationen unter diesem ungesühnten Mord gelitten hatten. Sein Vater Kurt sei deutsch-national eingestellt gewesen, SS-Anwärter. Er habe nie bereut und niemanden um Vergebung gebeten.

Der Besuch sei «ein wahrhafter Akt großen Mutes» gewesen, sagt Yvonne Kérandel. «Das hat ermöglicht, das Schicksal des Großvaters zu thematisieren, um ihn nicht zu vergessen.» Über die Geschehnisse von damals sei in den Familien lange geschwiegen und später nur zögerlich und wenig erzählt worden. Durch die Begegnung sei die Familiengeschichte der Kérandels neu geschrieben worden.

(epd)

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