Hintergrund
Protestantische Reformbewegung: Der Pietismus

Auf die Spannung und das Trauma des Dreißigjährigen Krieges reagierte die pietistische Reformbewegung mit Neuorientierung auf die Bibel bzw. die christlichen Traditionen. Sie entsprang einem Gefühl der mangelhaften Frömmigkeit, unzureichender christlicher Lebensführung und dem Drang zur Verifizierbarkeit des persönlichen Glaubens. Eine Veränderung war für ihre Anhänger auch aufgrund der maroden Zustände der lutherischen Amtskirche, der genussfreudigen Fürsten und Geistlichen, die »Fleischeslust, Augenlust und hoffärtigem Leben« verfallen waren – wie es die zentrale Persönlichkeit des lutherischen Pietismus Philipp Jakob Spener beschreibt – nötig.
Spener, unter anderem kursächsischer Oberhofprediger in Dresden und seit 1691 Propst und Konsistorialrat an der Nikolaikirche in Berlin, setzte in lutherischer Tradition dem Treiben der Kirche die Worte der Bibel entgegen. Eines seiner Anliegen war es, die Mitarbeit von Laien im Sinne des »Priestertums aller Gläubigen« zu fördern. Predigten sollten als Erbauung dienen. Vielerorts stießen seine Ansichten auf Zustimmung und Nachahmung – der wohl bekannteste Gleichgesinnte war August Herrmann Francke. Er verband Speners Ansichten mit dem praktischen Wirken in der Welt.
Soziale Verantwortung übernahm Francke selbst im Kampf gegen »geistliche und sittliche Not« von Waisenkindern. Innerhalb von drei Jahrzehnten entwickelte sich aus dem von ihm 1698 initiierten Waisenhaus die bis heute bestehenden Franckeschen Stiftungen mit Schul- und Wohneinheiten, Werkstätten und Gärten.
Die pietistische Lebensweise zielte auf Haltung und bewusste Lebensgestaltung, sie verinnerlichte und verstärkte die traditionelle Moral. Ausgehend von der Annahme, dass Glaubenserlebnisse eingeübt werden konnten, erhielten regelmäßiges Bibellesen und Gebet eine ähnlich große oder sogar größere Bedeutung für den eigenen Glauben als Gottesdienste. Der persönliche Austausch in Gesprächsgruppen sowie intensive Selbstanalyse und Erkenntnis durch Briefe und Tagebücher waren Ausdruck der individuellen Frömmigkeit. Vor allem der schriftliche Austausch förderte die Zusammengehörigkeit und das religiöse Selbstverständnis. Im Zuge der mehr vom Gefühl als vom Verstand geleiteten Frömmigkeit spielten mystische Erfahrungen eine große Rolle.
Bis etwa Mitte des 18. Jahrhunderts kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Vertretern der lutherischen Orthodoxie. Sie warfen den Pietisten unter anderem die Aufnahme heterodoxer Anschauungen und Praktiken vor, die Störung der Kirchenordnungen durch die privaten Zusammenkünfte und andere Neuerungen, die Spaltung der Gemeinden und den Hang zum Perfektionismus.
Die pietistische Bewegung in Deutschland hat seit ihrer Entstehung zahlreiche Veränderungen durchgemacht: vom klassischen Pietismus der Barockzeit über den Spätpietismus des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts, die Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts und die Gemeinschaftsbewegung bis zur evangelikalen Bewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach dem Beitritt der Deutschen Evangelischen Allianz 1968 zur World Evangelical Fellowship wurde das Wort »pietistisch« zunehmend vom Wort »evangelikal« verdrängt, auch wenn beispielsweise die Gemeinschaftsbewegung immer wieder ihre Eigenständigkeit gegenüber der evangelikalen Bewegung betont und hin und wieder andere Akzente als diese setzt. (G+H)

Autor:

Online-Redaktion

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