Kommentar
Reformation mit Mantra

Von Tilman Baier

Wenn er an die Zeit vor dreißig Jahren zurückdenkt, dann hat er die Rufe wieder im Ohr: „Wir sind das Volk!“ und „Keine Gewalt!“. Er erinnert sich, wie er von diesen Rufen mitgerissen wurde. Denn sie schweißten die Menschen zusammen, brachten auf den Punkt, was sie für ein paar Wochen im Herbst 1989 vereinte.
Später las er dann irgendwo, dass diese immer gleichen Rufe damals das Mantra der Friedlichen Revolution gewesen seien. Mantra, so fand er dann im Lexikon, kommt aus dem Sanskrit, dieser uralten indischen Sprache, in der die religiösen Texte des Hinduismus und Buddhismus abgefasst sind.
Ein Mantra ist danach eine heilige Silbe, ein heiliges Wort oder ein heiliger Vers. Durch einen geistlichen Lehrer wird es dem Schüler zugesprochen oder findet ihn durch Meditation. Dieser soll dann diese Worte immerfort präsent haben, sie stetig wiederholen. Denn nur so hat die in ihnen wohnende spirituelle Kraft die Möglichkeit, den Menschen zu durchdringen und dadurch zu verändern.
Ein solches Mantra steht auch am Beginn des Predigttextes für diesen Reformationstag, das „Sch’ma Jisrael“, Kernsatz jüdischen Glaubens. „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer.“
Das Ursprungserlebnis, das Menschen mit diesem Gott gemacht haben, war eine Befreiung aus leiblicher und geistiger Knechtschaft. Das haben die Reformatoren wieder ans Licht gebracht. Aus dieser Quelle schöpften auch die Rufe vor 30 Jahren auf den Demonstrationen nach den Friedensgebeten. Das Mantra für den Reformationstag 2019 könnte darum heißen: „Keine Gewalt, denn wir sind dein Volk, du Gott der Freiheit.“
Der Gastkommentator ist Chefredakteur des Ev. Wochenblatts für die Nordkirche.

Autor:

Online-Redaktion

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