Cittàslow
Lob der Langsamkeit

Andreasbrunnen und katholische Kirche St. Ulrich in Deidesheim. Der beschauliche Winzerort gehört dem internationalen Netzwerk "langsamer Städte", Cittaslow, an. | Foto: epd-bild/Karsten Packeiser
  • Andreasbrunnen und katholische Kirche St. Ulrich in Deidesheim. Der beschauliche Winzerort gehört dem internationalen Netzwerk "langsamer Städte", Cittaslow, an.
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Lebensqualität statt Wachstum um jeden Preis, regionale Eigenheiten statt Gleichförmigkeit: Die weltweite Vereinigung «langsamer Städte», Cittàslow, verfolgt einen Gegenentwurf zur Globalisierung. Mitglieder hat das Netzwerk auch in Deutschland.

Von Karsten Packeiser

Wer mit offenen Augen im pfälzischen Deidesheim spazieren geht, begegnet der orangefarbenen Schnecke zwischen pittoresken Fachwerkhäusern und vornehmen Winzer-Höfen auf Schritt und Tritt: Sie mahnt Autofahrer auf dem Schild vor der Grundschule, den Fuß vom Gas zu nehmen. Sie ziert die bemalten Trafokästen im Ortskern. Als Plüschtier ist sie in der Touristeninformation erhältlich.

Die Schnecke ist das Markenzeichen des internationalen Netzwerks «langsamer Städte», Cittàslow, zu dem auch der beschauliche Winzerort an der Deutschen Weinstraße gehört. Der 1996 in Italien gegründeten Initiative sind mittlerweile 25 deutsche Kommunen beigetreten - von Meldorf in Dithmarschen bis Überlingen am Bodensee. «Es geht darum, in einer globalisierten Welt die regionalen Besonderheiten zu stärken», sagt Manfred Dörr, früherer Stadtbürgermeister von Deidesheim. Im historischen Rathaus seiner Heimatstadt hält er als Präsident von Cittàslow Deutschland weiter die Fäden zusammen.

Das Netzwerk vereint die Ideen nachhaltiger Entwicklung mit der Rückbesinnung auf eigene Traditionen. In Italien ist es im Zuge der Slow-Food-Bewegung entstanden, die sich als Gegenpol des Fast Food versteht. «Wir geben uns nicht länger damit zufrieden, dass die als gesichtslose Ballungsgebiete gebauten Städte sich alle ähneln und es keine Rolle mehr spielt, in welcher wir leben», formulierte der Bürgermeister von Orvieto und Mitbegründer von Cittàslow, Stefano Cimmicchi, das Credo der Organisation. «Heute entdecken wir wieder die Bedeutung historischer Stadtkerne, restaurierter kulturhistorischer Orte und Gebäude, greifen wieder auf heimische Produkte zurück und lernen, unsere sozialen Beziehungen neu zu gestalten.»

Deidesheim mit seinem kompakten historischen Stadtbild und seinen knapp 4.000 Einwohnern passt gut in die Cittàslow-Runde. Einst hatten schon die Speyerer Fürstbischöfe die Kleinstadt am Westrand des Pfälzerwaldes als Sommerresidenz auserkoren. Später brachte Kanzler Helmut Kohl (CDU) regelmäßig Staatsgäste hierher, um ihnen den berühmten Pfälzer Saumagen zu servieren.

In den ersten Nachkriegsjahrzehnten, als der deutsche Cittàslow-Präsident Manfred Dörr begann, sich mit Lokalpolitik zu befassen, war seine Heimatstadt zwischenzeitlich auf dem besten Weg, zu einem zweiten Rüdesheim zu werden: Mit Sonderzügen wurden damals Tausende Touristen in das beschauliche Städtchen gebracht und zu den örtlichen Weinlokalen geschleust. Feuchtfröhliche Kegelvereine und andere mehr oder weniger trinkfeste Ausflugsgesellschaften schoben sich durch die Gassen. «Man hat dann schnell bemerkt, dass das schwierig ist mit den großen Gruppen», sagt der langjährige Stadtchef.

Längst gilt hier das Prinzip Qualität vor Masse. Gleich zwei Restaurants sind mit Michelin-Sternen ausgezeichnet. «Wir wollen nicht immer mehr Betten und immer mehr Gäste haben», erklärt Stefan Wemhoener, Geschäftsführer der Deidesheimer Tourist-Information.
Besucher sollten sich nicht vorkommen wie auf einem Rummelplatz.

Auch in anderen Bereichen der Stadtpolitik hatte Deidesheim schon zukunftsweisende Weichenstellungen vorgenommen, ehe dies dem Zeitgeist entsprach und bevor die Stadt sich überhaupt um eine Mitgliedschaft bei Cittàslow beworben hatte - etwa mit dem Umstieg auf nachhaltig produzierten, von den eigenen Stadtwerken bereitgestellten Strom oder einem der ersten kommunalen Klimaschutzkonzepte. All das, sagt Dörr, mache deutlich: «Die Schnecke steht nicht für langsames Arbeiten.»

Um Mitglied in dem Netzwerk zu werden, müssen Städte ein Bewerbungsverfahren durchlaufen. Nur Kommunen bis maximal 50.000 Einwohner können Cittàslow beitreten. Sie müssen zuvor nachweisen, dass sie zu den Zielen der Bewegung stehen, dass sie etwa eine innovative Umweltpolitik betreiben, regionale Produzenten stärken und das Kulturleben fördern.

Eine Studie der Fachhochschule Westküste aus Heide bescheinigte den «langsamen Städten» eine überdurchschnittliche Lebensqualität. «Knapp ein Drittel der Bevölkerung spürt seit der Mitgliedschaft in Cittàslow eine Verbesserung der Lebensbedingungen», lautete das Fazit einer Bürgerbefragung in den drei untersuchten Mitgliedsgemeinden Deidesheim, Meldorf sowie Bad Essen bei Osnabrück. Der für alle Orte als Wirtschaftsfaktor wichtige Tourismus wurde nirgendwo als störend empfunden.

In Deidesheim bemühen sich die Verantwortlichen, die Ideen der Cittàslow-Bewegung an kommende Generationen zu übertragen. Eines der jüngsten Projekte war ein Kochkurs für kleine Kinder. «Die haben sogar Wurst gemacht», berichtet Manfred Dörr. Und zum Abschluss hätten alle gewusst, wie unterschiedlich eine Pfälzer Tomate und eine holländische aus dem Supermarkt schmecken.

Cittàslow hat Mitgliedskommunen in der ganzen Welt, selbst in Ländern wie Südkorea oder der Volksrepublik China. Und die Ideen der Bewegung entwickeln sich fortlaufend weiter. So ist ausgerechnet im - alles andere als beschaulichen - türkischen Izmir das Projekt «Cittàslow Metropolis» angelaufen - mit Überlegungen, wie die Ziele der langsamen Kommunen auch in Megastädten umgesetzt werden können.

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