Halt! So geht es nicht mehr

Höchstgeschwindigkeit: Dem Trend der Zeit folgen, heißt, alles muss schneller, effektiver gehen. Die Gegenstrategie lautet nicht Entschleunigung, sondern Resonanz. | Foto: kurkalukas – fotolia.com
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  • Höchstgeschwindigkeit: Dem Trend der Zeit folgen, heißt, alles muss schneller, effektiver gehen. Die Gegenstrategie lautet nicht Entschleunigung, sondern Resonanz.
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Die Welt befindet sich in einer Krise. Das Prinzip des stetigen Wachstums stößt an seine psychischen, politischen und planetaren Grenzen. Eine Analyse.
Von Jörg Hübner

Beschleunigung – dieses Stichwort ist zum Inbegriff unseres Weltverhältnisses geworden: Es muss alles schneller, effizienter, optimierter werden, vor allem muss es mehr werden und wachsen. Diese Steigerungsdynamik durchzieht alle Lebensbereiche – auch die Kirchen und ihre Gemeinden. Selbst die zahlreichen Missionsbemühungen der Landeskirchen sind im Grunde hier angesiedelt, wenn es um das bewusste Wachsen von Gemeinden geht.
Dabei gibt es inmitten der Gesellschaft unzählige Versuche, sich der wachsenden Beschleunigung zu entziehen: Es wird nach Formen der »Entschleunigung« gesucht. Dabei laufen all diese Bemühungen ins Leere: Die Manager, die sich ins Kloster zurückziehen, um »Entschleunigung« zu erfahren, nutzen diese Erfahrung mehrheitlich dazu, um nach einer Entschleunigungs-Erfahrung noch beschleunigter, effizienter und optimierter ihre Leistung zu erbringen.
Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa hat diese Tendenzen analysiert: Die Weltgesellschaft befindet sich nach seinem Urteil in einer Sackgasse. Die Steigerungsdynamik der Moderne stößt heute an ihre psychischen, politischen und planetaren Grenzen – und Hartmut Rosa hat mit seiner Analyse den Finger in die Wunde gelegt. Der Energieaufwand zur Aufrechterhaltung des Wachstums wird von Jahr zu Jahr größer – und ein Ende ist nicht absehbar. Ja, wir wachsen uns kaputt.
Obwohl die moderne Gesellschaft ihre Existenz damit aufs Spiel setzt, kann sie ihr aber auch nicht entkommen. Es fehlt an einer konsistenten Gegenstrategie – und genau darum geht es Hartmut Rosa. An die Stelle der Beschleunigung setzt er nämlich bewusst nicht Formen der Entschleunigung, sondern ein neues Bewusstsein, das er »Resonanz« nennt. Es handelt sich dabei um eine neue, zukunftsfähige Weltbeziehung. Resonant lebt derjenige, der das Gegenüber von Subjekt und Objekt, von Mensch und Welt, von Gefühl und Verstand, von Geist und Materie hinter sich lässt. Es geht um Begegnungen, nicht um Beherrschung und Verdinglichung, es geht in resonanten Weltbeziehungen um eine echte Auseinandersetzung auf Augenhöhe und um Dialog.
In der Tat mangelt es an resonanten Beziehungen auf allen Ebenen: In der Politik stehen die Demokratien unter Druck, weil Kompromisse nicht mehr gelebt werden. Aktuelle Beispiele aus der Bundespolitik stehen vor Augen. Im Umgang mit der Natur hat sich am Ausnutzen der vorhandenen Ressourcen nicht viel geändert. Auch die digitale Kommunikation in den Sozialen Medien mit ihren »Echokammern« ist alles andere als wahrhaft resonant. Wenn es um die Zukunftsfähigkeit der Welt geht, so Hartmut Rosa, müssen auf der Horizontalen, also im Gespräch miteinander, auf der Diagonalen, das ist der Umgang mit Materialien und schließlich auf der Vertikalen, also in der Beziehung zum Religiösen, resonante Beziehungen etabliert werden.
Diese soziologische Analyse Hartmut Rosas könnte auch dem kirchlichen Engagement wichtige Impulse verleihen – und das auf mehreren Ebenen: Zunächst einmal setzt die »Soziologie der Weltbeziehung« bei der Zivilgesellschaft an. Veränderungen sind kaum von der Politik zu erwarten, im eingeschränkten Maße von den Wissenschaften. Allerdings dort, wo Bürgerinnen und Bürger sich zivilgesellschaftlich engagieren. Als Kirchen sind wir nicht nur Teil der Zivilgesellschaft, sondern in vielfältiger Weise mit Kooperationspartnern in der Zivilgesellschaft vernetzt. Die Kirchen dürfen in den Krisen, in denen sie sich personell, konzeptionell und finanziell derzeit befinden, dieses Potenzial nicht in Frage stellen, sondern haben den Bezug zu Aktiven inmitten der Gesellschaft zu pflegen, um resonante Weltbeziehungen zu stärken. Angesichts der Strukturdebatten unserer Kirchen hilft es nicht, den Blick nach innen zu richten.
Potentielle und aktive Kirchenmitglieder erwarten von ihren Kirchengemeinden nach der jüngsten Mitgliedschaftsbefragung eine weiterführende Zeitansage: Wie geht es weiter in einer immer komplexer gewordenen Welt? Die Soziologie der resonanten Weltbeziehung mit ihrer kritischen Analyse des Phänomens Wachstumsstreben, Steigerungsdynamik und Beschleunigung bietet dafür einen hilfreichen, politischen Deutungsrahmen an. Die Auslegung des Evangeliums muss sich in dieser verunsicherten Welt verorten lassen und alternative Perspektiven aufzeigen können. Deswegen: Gerade heute kommt es darauf an, wieder politisch zu predigen und zu leben – ohne die spirituellen Quellen der Botschaft vom Leben jenseits der Grenzen der vielfältigen Tode zu verleugnen.
Dazu ermutigt der Ansatz Hartmut Rosas. Er spricht von den drei Resonanzachsen, die zusammengehören, von der horizontalen, der diagonalen und der vertikalen Resonanzachse. Erst im Dreiklang aller Resonanzachsen ergibt sich eine tragende Weltbeziehung. Die Vertikale ist im Sinne einer resonanten Weltbeziehung zu fördern; verstecken brauchen wir Jesu Lebensbotschaft nicht. Das noch nicht eingelöste Versprechen Gottes einer neuen, zukunftsfähigen und sozialen Welt kann uns antreiben und ist theologisch neu zu buchstabieren. Wir brauchen eine Wiederbelebung einer Hoffnungstheologie, einer Theologie vom kommenden Reich Gottes. In einer Welt, in der gewaltige Umbrüche das Gewohnte auf den Kopf stellen und sich die Existenz-Frage im Kollektiven dramatisch stellt, könnte die Botschaft Jesu vom bleibenden Leben jenseits der Todeswelten eine neue Aktualität gewinnen. Die Resonanztheorie Hartmut Rosas gibt uns einen Deutungshorizont, in dem sich das Evangelium in lebensdienlicher, politischer und zukunftsweisenden Art und Weise aussagen und verständlich machen lässt.
Kirchliche Reformstrategien versuchen sich landauf landab an einer Fülle neuer, digitaler und zielgruppenorientierter Veranstaltungsformate. Solche Bemühungen sind sehr zu begrüßen; jedoch darf dabei nicht versäumt werden, die lebensdienliche und politische Brisanz der Botschaft des Evangeliums zu entfalten.

Der Autor ist Direktor der Evangelischen Akademie Bad Boll in Baden-Württemberg.

Höchstgeschwindigkeit: Dem Trend der Zeit folgen, heißt, alles muss schneller, effektiver gehen. Die Gegenstrategie lautet nicht Entschleunigung, sondern Resonanz. | Foto: kurkalukas – fotolia.com
Resonanz als physikalisches Phänomen: Bringt man zwei Stimmgabeln nah zueinander und schlägt eine davon an, so ertönt die andere mit. Hartmut Rosas These basiert darauf, dass auch Menschen – wie die »zweite Stimm­gabel« – von etwas Begegnendem zum Klingen gebracht werden können. | Foto: Schuppich – Fotolia.com
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