Vor 30 Jahren Stasi-Unterlagengesetz inkraft
Vergiftete Hinterlassenschaft

Am 2. Januar 1992 schrieben die Deutschen nochmal Geschichte. Am Morgen öffnete eine neu geschaffene Behörde ihre Türen, um den Menschen Einblick in die Akten eines Geheimdienstes zu geben.

Von Markus Geiler

Vor allem jede und jeder Ostdeutsche sollte erfahren, wie ihn die abgewickelte DDR-Stasi überwacht und bespitzelt hatte, welche Freunde und Verwandte zu Verrätern geworden waren. Zudem sollten Politikerinnen und Politiker sowie Angehörige des öffentlichen Dienstes künftig auf eine mögliche Stasi-Mitarbeit überprüft werden.

Dieser bis dahin weltweit einmalige Vorgang sollte nach 40 Jahren SED-Diktatur etwas Gerechtigkeit schaffen, hofften die einen. Die anderen fürchteten Racheakte, Mord und Totschlag. Die Sammelwut des DDR-Staatssicherheitsdienstes war legendär. Mehr als 111 Kilometer Aktenmaterial hatten die 91 000 hauptamtlichen Mitarbeiter seit Gründung der Stasi 1950 angehäuft. Dazu kamen mehr als 1,7 Millionen Fotos sowie Karteikarten, Filme, Tondokumente und Mikrofiches. Weitere bis zu 189 000 inoffizielle Mitarbeiter (IM) hatten sich an der möglichst lückenlosen Überwachung der 16 Millionen DDR-Bürger beteiligt.

Zu den ersten, die am 2. Januar ihre Stasi-Akten einsehen konnten, gehörte Ulrike Poppe. Die DDR-Bürgerrechtlerin war Mitgründerin der oppositionellen „Initiative Frieden und Menschenrechte“. „Natürlich war ich davon ausgegangen, dass uns die Stasi bespitzelt hat“, erinnerte sich die spätere Brandenburger Diktaturbeauftragte an diesen Tag: „Ich war dann aber doch überrascht, ein Konvolut von etwa 40 Leitz-Ordnern vorzufinden.“

Die Akten enthielten „viel langweiliges Zeug“, berichtete Poppe in einem Interview: „Sehr interessant waren dagegen die Spitzelberichte und die geplanten Zersetzungsmaßnahmen.“ Wie weit die Arme der Krake Stasi in das Privatleben hineinreichten, musste auch Bernd Stracke schmerzlich erfahren. Er war Punk der ersten Stunde in Leipzig und Mitglied der legendären DDR-Punkband „Wutanfall“. Vier IM hatte die Stasi in seinem engsten Umfeld platziert: „Mit dem einen war ich am Vorabend noch im Kino.“

Schorlemmer: "Freudenfeuer"

Die letzte frei gewählte Volkskammer hatte bereits im August 1990 ein Gesetz verabschiedet, das einen weitgehend freien Zugang zu den Akten vorsah. Es sollte nach Wunsch des DDR-Parlaments als positive Mitgift in den Einigungsvertrag eingebracht werden. In Bonn fremdelte man mit dieser Idee. „Die Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) wollte einen Deckel draufmachen“, erinnert sich der erste Behördenchef und spätere Bundespräsident Joachim Gauck 30 Jahre später.

Aber auch im Osten gab es Widerstände. Der Wittenberger Theologe Friedrich Schorlemmer wollte alle Stasi-Akten einem „Freudenfeuer“ anvertrauen. Der Liedermacher Wolf Biermann bügelte Schorlemmer ab: „Ich kann es nicht fassen, dass eine solche Kohlsche Blähung aus deinem Munde kommt.“ Der Berliner Jurist und Historiker Johannes Weberling vermutete, dass es unter einigen westdeutschen Politikern einen lapidaren Grund gegen die Öffnung gab: Es könnten so ihre möglichen Ausschweifungen bei vergangenen Ost-Berlin-Besuchen ruchbar werden.

Gegen ein „Deckel-drauf“ oder eine Vernichtung der Unterlagen sprachen aus Sicht der meisten DDR-Bürgerrechtler vor allem die Belange der Opfer. Es ging um „ein Stück geklautes Privatleben, gestohlen durch Stasi-Bespitzelungen“, wie Ingrid Köppe sagte, einstige „Neues Forum“-Aktivistin.

Nachdem Bürgerrechtler medienwirksam die frühere Stasi-Zentrale in der Ost-Berliner Normannenstraße besetzt hatten, wurde schließlich eine Zusatzerklärung über den Zugang zu den Stasi-Akten zum Einigungsvertrag angenommen. Ein Jahr später kam es dann zum Bundestagsbeschluss.

Seit Juni 2021 ist die Behörde nun Teil des Bundesarchivs. Der offene Zugang ist geblieben. Bis Mitte 2021 waren mehr als 7,3 Millionen Ersuchen eingegangen, darunter 3,3 Millionen von Bürgern.

(epd)

Autor:

Online-Redaktion

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