Wort zur Woche
Wenn das Weltgericht über uns schwebt

Jörg Uhle-Wettler,  Domprediger in Magdeburg | Foto: privat
  • Jörg Uhle-Wettler, Domprediger in Magdeburg
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Wort zur Woche Christus spricht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Matthäus 25, Vers 40

Am Rande der EKM im Kirchenkreis Torgau-Delitzsch gibt es eine kleine Kirche in Schnaditz. Das Deckengemälde wurde mit unzähligen Klebestreifen versehen, und niemand erinnerte sich im Dorf an das Bild. Um 1719 herum wird es entstanden sein. Maler unbekannt. Mit Hilfe der Feuerwehr und eines Restaurators gingen wir vor fünfzehn Jahren auf Spurensuche. Der Restaurator hat die Klebestreifen vorsichtig und fachmännisch abgezogen. Dann hat er einen Teil des Bildes mit einem Lösungsmittel besprüht. Dadurch konnte für 30 Minuten der Brechungsindex des auf der Malerei liegenden geschädigten Firnisses so geändert werden, dass diese wieder durchscheinend wurde. Wie in einer Dunkelkammer ein Foto – so zeigte das Bild langsam Konturen und wurde sichtbar. Für eine halbe Stunde.
Wir sahen in die Gesichter derer, die zur linken des Menschensohnes gestellt wurden beim großen Weltgericht. Der Maler hat diesen einen Moment festgehalten, als sie fragten: Hungrig, durstig, heimatlos, krank, im Gefängnis? Wann hätten wir dich je so gesehen und dir nicht geholfen? Und er antwortet: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.
Die Blicke der Gemalten und so von der Macht des Urteils Gezeichneten sind mir im Gedächtnis geblieben, als das Bild wieder verschwand. Diese Fassungslosigkeit in den Augen, weil sie alles von Jesus erwartet haben. Aber nicht dieses Urteil. Denken wir doch allzu oft: „Die Hölle, das sind die anderen“ – so Sartre in seinem Stück "Geschlossene Gesellschaft".
Imaginär schwebt das Bild über jeder Gemeinde, die sich auf Christus beruft. Ohne Ansehen der Person gelten die biblischen sechs Werke der Barmherzigkeit: Hungernde speisen, Durstige nicht verdursten lassen, Nackte kleiden, Fremde beherbergen, Kranke pflegen, Gefangene in ihren Kerkern besuchen. Später wurde ein siebtes Werk hinzugefügt: Die Toten begraben. Zurzeit arbeitet der Restaurator Wilfried Sitte in Schnaditz. Es kommt alles ans Licht.
Jörg Uhle-Wettler,  Domprediger in Magdeburg

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Online-Redaktion

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