Volkstrauertag
"Machst Du mir meinen Vater kaputt?"

Christian Meyer-Landrut ist ehrenamtlicher Landesvorstand der Johanniter Unfallhilfe Sachsen-Anhalt/Thüringen. | Foto: Foto: Steffen Wolf
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Wie geht man mit der Sprachlosigkeit der Kriegsgeneration um? Ein Architekt aus Weimar hat sich 25 Jahre nach dem Tod seines Vaters auf Spurensuche begeben und die Ergebnisse in einer Parabel verarbeitet. Willi Wild hat den Autor dazu befragt:

Wie kamen Sie darauf, fast drei Jahrzehnte nach dem Tod Ihres Vaters dieses Buch zu schreiben?
Christian Meyer-Landrut: Beschäftigt hat mich dieses Thema schon lange. Ich habe zwar mit meinem Vater über den Krieg gesprochen. Allerdings kam da von seiner Seite wenig, und ich habe nicht nachgefragt. Die wenigen Fragmente sind im Buch verarbeitet. Das meiste ist unausgesprochen liegengeblieben. Dass es jetzt dazu kam, hat mit Reife und Distanz zu tun. Außerdem war es ein Prozess. Zunächst habe ich in der Vergangenheit geschrieben. Später dann jedoch habe ich das in die Gegenwart geholt und mit Achi, meinem Vater, eine Art Zwiesprache gehalten. Eine Verlagsagentin hatte mich dann vor zwei Jahren ermuntert, daraus ein Buch zu machen.

Wie konnte daraus ein Buch entstehen, wo Sie doch so wenig von Ihrem Vater darüber wussten?
Ich habe mir ein Gerüst gebaut von Fakten des Vaters. Das sind Ortsbezüge. Und an diesem Gerüst habe ich Biographisches mit Narrativem verwoben. Am Ende ist es zu 80 Prozent narrativ. Aber dadurch hatte ich die Chance aufzuschreiben, was hätte sein können. Ich habe viele Fluchtberichte gelesen. Darin wird es nicht deutlich, was es bedeutet Hunger zu haben, zu frieren, die Detonation einer Fliegerbombe oder das Geräusch eines Stuka (Sturzkampfflugzeug, Anm. d. Red.) zu hören. In meiner schlaglichtartigen Erzählung versuche ich, diese Berichte in Bildsprache zu übersetzen und authentisch zu machen.

Für den Leser ist es nicht leicht zu erkennen, was authentisch und was Fiktion ist. Beispielsweise die Begegnung von Achi, der im Panzer durch das zerstörte Berlin fährt, mit einer hübschen Frau, seiner spätere Ehefrau.
Das entspricht nicht der Wirklichkeit. Aber genau an dem Beispiel wird deutlich, warum ich die Form der Erzählung gewählt habe. Was hingegen stimmt, ist, dass sie desertiert sind und mit einem Panzer marodierend durch die zerstörte Stadt gefahren sind.

Hatte Ihr Vater konkret über die Fahnenflucht gesprochen?
Ja. Ich kann mich nur erinnern, dass er erwähnte, aus einem Lager geflohen und mit dem Panzer im Niemandsland zwischen den Fronten getrieben zu sein. Aber die Geschichten ergaben nach meinen Recherchen keinen rechten Sinn. Ich weiß allerdings aus Erzählungen meines Onkels, dass er aus der Festungsstadt Posen mit dem letzten zivilen Zug nach Berlin gefahren, besser gesagt, geflohen ist. Mein Bruder hatte große Sorge, als ich dieses Buchprojekt anging, und fragte: „Machst Du mir meinen Vater kaputt?“

Was haben Sie ihm geantwortet?
Ich habe gesagt, dass wir in einer kaputten, traumatisierten Gesellschaft aufgewachsen sind. Diese Wunden tragen wir fort, und denen müssen wir uns stellen. Ich begebe mich nicht in eine Schiedsrichterrolle und habe auch nicht ansatzweise zu beurteilen, was damals passiert ist. Ich kann nur versuchen, die Verletzungen zu verstehen. Am Ende steht der Gedanke der Vergebung über allem. Es gab Menschen, für die der Glaube ihre Rettung und Festung war. Das ist meinem Vater offensichtlich abhanden gekommen. Er hat seinen Glauben in diesen Höllen verloren. Das beschäftigt mich sehr, was mit einer Seele passiert, die ihren Glauben verliert. Das hat auch mit Selbstvergewisserung zu tun: Was passiert mir, wenn die Zeiten sich ändern, wenn die Krakeeler gewinnen? Da ist dann das Buch höchstaktuell.

Der Untertitel der Buches ist an Jesaja 43 angelehnt. Welche Absicht steckt dahinter?

Das schicke ich meinem Vater posthum und erkenne dahinter auch Gottes Zusage, da zu sein. Selbst Jesus ruft am Kreuz: Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Die Antwort gibt es bei Jesaja: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Mein Vater ist durchs Wasser und durchs Feuer gegangen. Das ist eine kleine versteckte Botschaft im Untertitel, die letztlich an mich selbst und den Leser zurückgeht.

Ihr Bruder hatte Angst, dass der Vater durch das Buch beschädigt wird. Wie reagiert er auf das Ergebnis?

Er hat mir Absolution erteilt. Ein anderer Bruder hatte gemeint: "Jetzt hast Du mal etwas Anständiges gemacht." (lacht)

Meyer-Landrut, Christian: Deserta – Ich rufe dich bei deinem Namen, Edition Braus, 280 S., ISBN 978-3-86228-197-8, 22 Euro
Bezug über den Buchhandel oder den Bestellservice Ihrer Kirchenzeitung: Telefon (0 36 43) 24 61 61 

Christian Meyer-Landrut ist ehrenamtlicher Landesvorstand der Johanniter Unfallhilfe Sachsen-Anhalt/Thüringen. | Foto: Foto: Steffen Wolf
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