Pietismus
Aue der Gnade Gottes

Schlichter Ort der Erbauung: Der Saal der Herrnhuter Brüdergemeine in Gnadau | Foto: Katja Schmidtke
  • Schlichter Ort der Erbauung: Der Saal der Herrnhuter Brüdergemeine in Gnadau
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Herrnhuter Brüdergemeine: Als Mustersiedlung gründeten Christen im 18. Jahrhundert den Ort Gnadau. Christliche Symbolik und ein vielfältiges kirchliches Leben prägen das Dorf bis heute. Ein Besuch.

Von Katja Schmidtke

Licht. Strahlend weiß leuchten die Wände, die Sitzbänke, die Gardinen. Hell und schlicht ist der Saal der Herrnhuter Brüdergemeine in Gnadau. Keine barocken Epitaphien, keine gotischen Gewölbe, keine kunstvollen Glasmalereien. Statt eines Altars ein Tisch. Selbst das Kreuz muss man suchen. Manch einer behauptet, nur ein Operationssaal sei klinischer.
Friedemann Hasting schmunzelt. »Schauen Sie mal nach oben«, sagt der Pfarrer. Tatsächlich, auf der Empore steht die Orgel, gekrönt von einem güldenen Kreuz. Kein Kruzifix, kein Bildnis, kein Kunstwerk soll hier ablenken. Der Raum ist nicht heilig, er heißt nicht Kirche, sondern Gemeinsaal. Das leitet sich von Brüdergemeine ab: Frauen und Männer wollten einfach (daher der Name »Gemeine«) und geschwisterlich (daher »Brüder«) miteinander leben.
In Gnadau, südlich von Magdeburg, sind viele theologische Annahmen der Brüdergemeine im wahrsten Wortsinne in Stein gemeißelt. Das Dorf ist quasi eine Mustersiedlung der Herrnhuter Christen. Die Glaubensgemeinschaft hat ihren Ursprung im Pietismus und der tschechischen Reformation und wurde von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf in Herrnhut/Oberlausitz entscheidend geprägt.
1767 hatte die Herrnhuter Brüdergemeine Gnadau planmäßig angelegt. Der Name des Dorfs, nicht weit entfernt von Elb- und Saaleauen, setzt sich aus Gnade und Aue zusammen und erinnert an Psalm 23. Gnadau sollte zu einer »Aue der Gnade Gottes« werden. Der zentrale Zinzendorfplatz ist quadratisch, mit vielen Wegen, Ein- und Ausgängen. Sie stehen für die fünf Wundmale Jesu, die zwölf Jünger, die zwölf Tore ins himmlische Jerusalem. Die Wegführungen sind so gestaltet, dass sich aus der Vogelperspektive das Christusmonogramm erkennen lässt. Früher gab es in der Mitte einen Brunnen: »Alle Bewohner hatten den gleichen Weg zum Wasser, den gleichen Weg zu Christus«, erklärt Pfarrer Hasting. Viele Lindenbäume säumen die Straßen. Mit ihren herzförmigen Blättern symbolisieren sie Herzensbindung eines jeden Gläubigen an Gott.
Bei der Herrnhuter Brüdergemeine steht ein bewusstes, persönliches Bekenntnis im Vordergrund, wenngleich Pfarrer Hasting natürlich auch »Karteichristen« kennt. Aber im Vergleich zu den Kollegen der evangelischen Landeskirche kann der Herrnhuter Prediger besser auf diese Menschen zugehen. Er betreut rund ein Drittel der Mitglieder.
Zur Brüdergemeine in Gnadau zählen 230 Christen, wovon etwa 80 in Gnadau selbst leben. Viele andere Mitglieder wohnen in der Region verstreut: Einmal im Vierteljahr predigt Friedemann Hasting daher auch in Dessau, Leipzig, Gardelegen und Wernigerode. Gnadau selbst hat rund 500 Einwohner.
Um die rund 140 landeskirchlichen Christen im Ort kümmert sich auch der Prediger der Brüdergemeine, alle sechs bis acht Wochen feiert Friedemann Hasting einen landeskirchlichen Gottesdienst. Eine Doppelmitgliedschaft in beiden Kirchen ist möglich.

Hintergrund: Gnadauer Gemeinschaftsverband
Die einzigartige Historie Gnadaus ist heute weitgehend unbekannt, sein Name jedoch im Zusammenhang mit Landeskirchlichen Gemeinschaften und Evangelischen Gemeinschaftsverbänden durchaus ein Begriff. Verwaist liegt er inzwischen da, jener Gasthof, in dem 1888 die Pfingstkonferenz der pietistischen Gemeinschaftsbewegungen tagte (Foto), aus dem besagter Gnadauer Verband hervorging. Die Konferenz gilt als erster Schritt auf dem Weg zu einer Einheit der deutschen Gemeinschaftsbewegung, deren Landesverbände bis dato isoliert arbeiteten. Trotz unterschiedlicher Prägung einte sie das Anliegen, die Arbeit von Laien in der evangelischen Kirche stärker zu entfalten. Es bestanden keine Absichten, sich von der Kirche zu separieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg teilte sich der Verband entsprechend der innerdeutschen Grenze und schloss sich 1991 wieder zum »Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverband« zusammen. Heute hat er seinen Sitz jedoch in Kassel. Vertreten sind darin eine große Bandbreite theologischer Auffassungen, je nach Stellung der einzelnen Gemeinschaften und ihrer Verbände in den verfassten Kirchen. Der Neupietismus und mit ihm die Gemeinschaftsbewegung setzt im Gegensatz zum klassischen Pietismus auf eine stärkere Ausrichtung auf Lehre und Verkündigung, die teilweise zu Lasten der karitativen und diakonischen Tätigkeiten gehen kann.

In Gnadau ist rund jeder zweite Einwohner Mitglied einer Kirche: Es gibt neben Protestanten und Herrnhuter Christen auch Baptisten und Sieben-Tags-Adventisten. Die Brüdergemeine sieht sich als Scharnier zwischen großen und kleinen Kirchen, zwischen römisch-katholischer Weltkirche, evangelischen Landeskirchen und Freikirchen. »Uns ist wichtig, Ökumene nicht nur als katholisch-evangelische Dimension zu sehen«, so Pfarrer Hasting. Dieser Weitblick habe in jüngster Vergangenheit immer wieder Menschen für die Brüder-Unität begeistert. Die kleine Gemeinde wächst zwar nicht, aber sie schrumpft auch nicht.
Kirche ist kein Ort, sondern da, wo Gottes Licht scheint, sagt Pfarrer Hasting. Aus dieser Perspektive sehen die Gnadauer ihren Saal auch nicht als heiligen Raum, sondern als gute Stube. Er fügt sich am Zinzendorfplatz in die Reihe von Wohnhäusern ein. Nur die großen Fenster und der Dachreiter kennzeichnen ihn als Versammlungsort. »Wir räumen hier auch mal flink um, feiern fröhlich Feste, schenken ein Glas Wein aus«, erzählt der Pfarrer. Was erlaubt ist, entscheidet der Ältestenrat.
Trotz vieler Gemeinsamkeiten mit anderen Konfessionen – allem voran natürlich Christus als Zentrum des Glaubens – haben sich in der Brüdergemeine besondere liturgische Formen entwickelt. Was Protestanten als Gottesdienst kennen, ist hier eine Predigtversammlung. Auf die kann man sich gerne schon am Samstagabend mit einer Gebetsingstunde einstimmen. Die Liturgie ist immer anders: Es gibt Liturgien für Ostern und Weihnachten, orthodoxe Liturgien, welche zum Heiligen Geist oder zum Sohn. Das Abendmahl hat eine eigene Liturgie, ist eine in sich geschlossene Veranstaltung. Man teilt sich eine Doppeloblate mit seinem Nachbarn. Der Kelch wird durch die Reihen gegeben. Es wird viel gesungen.
Wenn der Saal die gute Stube der Gemeinde ist, so ist der Gottesacker ihr Schlafsaal. Auch hier herrscht Gleichheit. Keine üppigen Grabmale, nur in den Boden gelassene Steinplatten. Keiner kann sich einen besonders schönen Platz reservieren, die Anordnung der Gräber erfolgt chronologisch nach Sterbedatum. »Wenn Gott mich ruft, kann ich mir nicht aussuchen, wer mein Nachbar ist«, sagt Friedemann Hasting. Auf den Platten findet sich neben Namen, Geburts- und Sterbedatum auch ein Bibelwort. Der Gottesacker gleicht einer steinernen Bibel.
Gnadaus Anlage als Familienort ist heute noch zu spüren: In das einstige Brüderhaus ist die evangelische Grundschule gezogen, im Schwesternhaus hat eine Herberge eröffnet. Die Einrichtungen der Stiftung Herrnhuter Diakonie prägen den Ort und sind neben einem Verpackungswerk größter Arbeitgeber.

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