Gedenkstätten
Warten auf den Tag X

Der neue Lern- und Gedenkort mit Dauerausstellung im früheren Hafttrakt B des ehemaligen Kaßberg-Gefängnisses in Chemnitz | Foto: epd-bild/Wolfgang Schmidt
  • Der neue Lern- und Gedenkort mit Dauerausstellung im früheren Hafttrakt B des ehemaligen Kaßberg-Gefängnisses in Chemnitz
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Tausende politische Gefangene haben einst vom Chemnitzer Kaßberg aus den Weg in die Freiheit angetreten. Die SED-Diktatur verkaufte sie für Devisen in den Westen. Nach Jahrzehnten ist der authentische Ort nun dauerhaft öffentlich zugänglich.

Von Katharina Rögner (epd)

Michael Schlosser ist an den Unrechtsort zurückgekehrt: 1984 saß er im Chemnitzer Kaßberg-Gefängnis, in der DDR das Drehkreuz der Stasi für den Häftlingsfreikauf durch den Westen. Der ehemalige Hafttrakt B wurde in den vergangenen zwei Jahren zum Lern- und Gedenkort umgebaut. An der offiziellen Eröffnung am Freitag nahm auch der 79-jährige Schlosser teil - zusammen mit anderen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Von Samstag an ist die neue Gedenkstätte öffentlich zugänglich.

Schlosser war wegen «Vorbereitung zum ungesetzlichen Grenzübertritt» zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt worden, weil er mit einem selbstgebauten Leichtflugzeug aus der DDR in die Bundesrepublik flüchten wollte. Er wurde von Stasi-Spitzeln verraten, inhaftiert und schließlich freigekauft. Im Kaßberg-Gefängnis wartete er auf seine Ausreise.

«Es waren 42 Tage», sagt er. Er weiß es noch genau. Alles sei ungewiss gewesen, bis zum Schluss. Selbst als er in Chemnitz in den «Wunderbus» stieg, der ihn aus der DDR bringen sollte, war er nicht sicher, wo er ankommt, erzählt er. Ähnlich erlebte es Sabine Popp: «Ich habe auf den Tag X gewartet», sagt sie. Die DDR-Zeit war für sie «totale Unfreiheit».

Auf dem Chemnitzer Kaßberg, mitten in einer schicken Wohngegend, werden nun im ehemaligen Gefängnis Lebensschicksale wie die von Schlosser und Popp erzählt, und zwar in den früheren Haftzellen. Die Dauerausstellung der Gedenkstätte im einstigen Trakt B stellt unter anderem 32 Biografien politischer Gefangener in zwei deutschen Diktaturen vor. Im Mittelpunkt steht neben der NS-Zeit der Häftlingsfreikauf, den die SED-Diktatur zwischen 1963 und 1989 praktizierte.

In der DDR wurden auf diesem Weg politisch Unbequeme anfangs gegen Waren, später für 45.000 bis zu 96.000 D-Mark pro Person «eingetauscht». Mehr als 33.000 Menschen verließen so den Osten.
Insgesamt brachte das rund 3,4 Milliarden West-Mark in die klamme Staatskasse des SED-Regimes.

Peter Wellach, Kurator der Chemnitzer Ausstellung, sagt, auch die Anwälte, die diese Fälle betreuten, seien dabei reich geworden. Der Bekannteste unter ihnen ist der zentrale DDR-Unterhändler und Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der für die Ausreisen sorgte und die Sammeltransporte von der damaligen Karl-Marx-Stadt aus mit getarnten Reisebussen über die innerdeutsche Grenze abwickeln ließ.

Etwa 90 Prozent aller für dieses «Tauschgeschäft» auserwählten Gefangenen ließ das Ministerium für Staatssicherheit aus den DDR-Strafvollzugseinrichtungen in den Trakt B des Stasi-Gefängnisses auf den Chemnitzer Kaßberg verlegen. Dieser Block, seit Freitag offizieller Gedenkort, hieß im Stasi-Jargon «Päppelanstalt», weil dort die Insassen in einem mehrwöchigen Aufenthalt körperlich und seelisch «aufgepäppelt» wurden.

Sie sollten trotz der Strapazen in der Haft im Westen einen guten Eindruck hinterlassen. Streng getrennt von den Stasi-Untersuchungshäftlingen gab es laut Zeitzeugen tagsüber offene Zellentüren, West-Zigaretten und sehr gutes Essen. Sie nannten den Trakt B «Vogelkäfig» - nach dem berühmten Anwalt.

Auf dem Weg zu einem dauerhaften Gedenkort auf dem Chemnitzer Kaßberg gab es viele Hürden. In den ersten fünf Jahren nach der Vereinsgründung 2011 fehlte den Initiatoren eine klare Perspektive.
Der Verein, heute Träger des Gedenkortes, organisierte Tage der offenen Tür und bot Führungen im früheren Drehkreuz für den Freikauf an.

Das zuvor wenig beachtete Thema kam in die öffentliche Wahrnehmung und schließlich auf die To-do-Liste der Behörden. Der Freistaat Sachsen verpflichtete sich, einen Gedenkort im Außenbereich aufzubauen - ein Teilerfolg für die Chemnitzer Initiatoren.

Der Vereinsvorsitzende Jürgen Renz erinnert sich an diese Zeit: «Wir hatten Sorgen, dass es bei einem Gedenkort außerhalb des eigentlichen Gebäudes bleibt.» Vor allem Zeitzeuginnen und Zeitzeugen seien wegen jahrelanger Querelen um den historischen Ort skeptisch gewesen. Schließlich sagte der Bund Mittel zu, 2019 konnte der Verein einen langfristigen Mietvertrag abschließen. Die jährlichen Betriebskosten übernimmt der Freistaat Sachsen.

Andere Gebäude auf dem früheren Gefängnisgelände wurden abgerissen oder als Wohnhäuser saniert. Der Freistaat hatte das ehemalige Gefängnis - bis 2010 noch genutzt - und das umliegende Gelände 2017 verkauft.

Die Gedenkstätte soll trotz moderner Ausstellungsarchitektur als authentischer Ort wahrgenommen werden. Der Verein versteht sie als «Lernort für Demokratie». Kurator Wellach betont: «Wir wollen von starken Menschen sprechen und wie die Diktatur reagiert, wenn sie 'Nein' sagen».

Der Lern- und Gedenkort Kaßberg-Gefängnis ist geöffnet jeweils von mittwochs bis sonntags von 10 bis 17 Uhr.

Autor:

Katja Schmidtke

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