ARCHIVARIUS
EIN NACHRUF
- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Das Gedächtnis des Ackerbürgerstädtchens Zahna an der Zahna
Wer in Wittenberg aufmerksam genug hinsah, der entdeckte ihn oft. Zunächst vielleicht nur als einen Mann mit Hut und Tasche, später auch mit Krücken, zuletzt nur noch seinen leeren Stuhl in diesem oder jenem Archiv. Aber wer es verstand, hinter der äußeren Erscheinung das innerlich Bewegte zu erkennen, der wusste: Hans Jochen Seidel war kein gewöhnlicher Archivar. Er war das, was E.T.A. Hoffmann in seinem unübertroffenen Buch „Der Goldene Topf” einst den „Archivarius Lindhorst“ genannt hatte: einen stillen Zauberer im Reich der papiernen Akten.
Geboren am 16. März 1956 in Thüringen, hatte Seidel – wie manche jener Wesen, welche mit der Geschichte innig verbunden sind – selber etwas Zeitenthobenes an sich. Als wäre er nie ganz in unserer platten Gegenwart angekommen, sondern stammte aus einem Zwischenreich der Siegel, Quellenvermerke, Fußnoten, Verweise, Glossen und Marginalien, wo jedes Blatt seine eigene Sprache spricht und jede vergilbte Akte einen Roman hergäbe, den es zu schreiben gälte.
In der evangelischen Kirchengemeinde St. Marien zu Zahna wirkte der Diplomhistoriker Herr Hans-Jochen Seidel einundzwanzig Jahre. Das ist eine fast biblische Zahl. Man könnte nämlich sagen: dreimal sieben Jahre – ein Zyklus der Treue. In dieser Zeit tat er, was nur wenige mit solcher Hingabe tun: Er diente der Erhaltung der Quellen. Nicht etwa als trockener Registrator, sondern als literarischer Schatzgräber. Dass er auch als Numismatiker nicht unbekannt war und sich mit den Münzen des Volkes der Mitte auskannte, soll hier nur am Rande vermerkt werden - es wäre zu reizvoll in das Reich der Metalle hinabzusteigen, die ihren Wert nur dadurch erhalten, wenn genug Leute daran glauben, dass sie wertvoll seien.
Seidel kannte sich in allen unseren Kirchenbüchern aus, in den verzeichneten Lebensläufen, Geburten, Taufen, Ehen und Toden, denn in diesen Aufzeichnungen ruhte sich für ihn und die Menschen, die sich mit den Besonderheiten materiae maiorum auskennen, das Weltgedächtnis höchstselbst aus. Mit unfehlbarer Hand fand und entzifferte er die verschlungenen Tintenlinien der Vergangenheit. Und wenn jemand – aus Amerika, aus Australien oder nur aus Annaburg – kam, um nach den eigenen Vorfahren zu fragen, so war es oft Seidel, der ihnen zeigte: Hier steht euer Ursprung niedergeschrieben. Hier ist euer Name, verzeichnet im Jahre des Herrn 1673, in diesem vergilbten Register.
Er war kein Techniker. Nein, der Computer war ihm eher ein unheimlicher Feind, und das nicht aus Böswilligkeit der Technik gegenüber, die ja auch den Buchdruck erfunden hatte, sondern aus Weltanschauung. Manchmal, so wird erzählt - und ich habe es selber mit eigenen Augen noch sehen dürfen - , benutzte er eine Gänsefeder, und obgleich sie nicht aus dem Himmel gefallen war, schien sie doch mit einer eigentümlichen Leichtigkeit historische Wahrheiten festhalten zu können.
Zuweilen rauchte er – zumindest in den Jahren direkt nach der Jahrtausendwende – im Archiv seine Zigarren. Der Geruch von Archivalien und kubanischer Pflanzen vereinte sich dann zu einer olfaktorischen Aura, die man anderswo nur in den Räumen halbvergessener Klöster findet. Und wenn man meinte, er schriebe einen Brief, schrieb er in Wahrheit eine „Misszelle“, wie er es nannte – eine kleine, gelehrte Anmerkung zur Archivgeschichte –, und zwar zu Themen, deren Abseitigkeit oft von heimlicher Grandezza getragen gewesen ist: etwa über chinesische Münzsysteme oder den Verlauf des Schmalkaldischen Krieges an lokalen Nebenschauplätzen, Stadtrechnungen und Listen vergessener Patrozinien. Die Kirchengemeinden in der ehemaligen Superintendentur verdanken ihm ihre verschollenen Heiligen. In Bülzig ist es die Heilige Katharina, die wir hier in der Kirche links vom Altar sehen.
Indes - man durfte dem Archivarius nicht begegnen, wenn man es eilig hatte. Denn Seidel sprach nicht. Er dozierte. Und zwar in jener kunstvoll mäandernden Weise, die zwischen Monolog, Beichtspiegel und historischen Weihetexten oszillierte. Man verließ ihn nicht selten erschöpft, aber historisch gebildeter und auf jeden Fall in puncto Fakten bereichert und belehrt.
Hans Jochen Seidel konnte fast maßlos zürnen, wenn Unordnung herrschte. Menschliche Ungerechtigkeit – vor allem gegen Akten, gegen die Geschichte oder gegen seitens der Historie benachteiligte Menschen – regte ihn auf wie andere Menschen nur das Finanzamt. Mit traumwandlerischer Sicherheit griff er in ungeordnete Papierstapel und zog genau dasjenige Blatt hervor, das ein längst vergessener Pfarrer im Jahr 1742 verschriftlicht hatte – und das plötzlich ein erhellendes Licht warf, etwa in einem genealogisch verzwickten Erbfall oder in die Dunkelheiten familiärer Abstammungswirren und angeblich verschwundener Erzeugerpersönlichkeiten. Manche sagten, das Archiv sei sein Gedächtnis gewesen – aber wir vermuten, das Gegenteil ist wahr: Er war das Gedächtnis des Archivs.
Am Ende ist er langsamer geworden. Man sah ihn mit Krücken, aber noch immer auf dem Fahrrad mit Taschen unterwegs. Die Straßen Wittenbergs waren seine Korridore, in denen er manchem von uns Vorträge hielt über Stadtgeschichte und wertvolle Büchererwerbungen aus Antiquariaten. Die Häubnerstraße sein Refugium. Und in Zahna, wo der Staub der Geschichte in feinen Schichten auf alten Archivkisten sich gesammelt hatte und ohne ihn nun wieder zur Ruhe kommen musste - weil der Hüter des Archivs hinter die Sterne versetzt worden ist - , da war seine Arbeit eine Bereicherung und Nachhall der Pfarramtswelt des 18. und 19. Jahrhunderts.
Nun ist er also zu der großen Weltchronik eingegangen. Gleich neben Flavius Josephus und Eusebius forscht er weiter. Herodot und Thukydides fragen ihn dort oben um guten Rat. Hinter Jakob Burghardt und an der Seite des Jorge aus Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose” da vermuten wir - und wissen ihn! Am 7.September 2025 um 10.30 Uhr in der Bülziger Kirche wird ein besonderer Gottesdienst gefeiert. Mit dem Siegel seiner Frage: „Was bleibt?” Das Andenken an ihren Archivar Hans Jochen Seidel ist der Gemeinde ein ehrliches Anliegen. Man hat einen Mitarbeiter und einen getreuen Freund verloren …
Wie bei den Figuren E.T.A. Hoffmanns weiß man auch bei Hans Jochen Seidel nicht ganz, ob er nun nur ein Mensch gewesen ist, wie die meisten von uns es bleiben müssen - oder ob einer der Bewahrer von Schwellen zu vergangenen Zeiten – einer jener Zwischenwesen, die den Zugang zu anderen Welten offenhalten, solange man ihnen zuhört und sie in ihrer Eigenart achtet, auch wenn das nicht immer ganz leicht ist. Ja - sagen wir es so: Wir haben einen seltenen Freund verloren! Deshalb sei es erlaubt, ihm diesen kleinen Denkstein zu setzen. Nicht aus Granit, sondern aus wohl abgewogenen Worten: Archivarius Seidel, Zahnaer Lindhorst, Bewahrer von Geschichten und Geheimnissen, du fehlst uns. Aber die Geschichte hat dich – nun endgültig ganz am 11.März – in ihr gewaltiges Verzeichnis aufgenommen.
Autor:Matthias Schollmeyer |
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