Pädophilie-Studie
Kirchentag stellt sich Verantwortung

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Sie moderierten Foren und gestalteten Bibelarbeiten. Aber erst nach ihrer aktiven Zeit beim Deutschen Evangelischen Kirchentag kam heraus, dass sie pädosexuelle Täter waren: Gerold Becker und Helmut Kentler. Dem Pädagogen Hartmut von Hentig wird eine Mitwisserschaft unterstellt. Eine nun vorliegende Studie geht den Verflechtungen nach.

Von Thomas Klatt

Historiker Uwe Kaminsky hat sich im Auftrag der Universität Greifswald tief in die Akten des Deutschen Evangelischen Kirchentages und anderer kirchlicher Archive hineingearbeitet. Wer die Dynamik der Kirchentage verstehen will, müsse weiter zurückblicken, sagt er. Nach 1945 habe sich ein protestantisches Netzwerk etabliert, das für ein besseres Deutschland eintrat. Darunter der Staatsrechtler Ernst Rudolf Huber, Vater des späteren Bischofs Wolfgang Huber. Oder der Jurist Ludwig Raiser, Vater des späteren Generalsekretärs des Ökumenischen Rates der Kirchen Konrad Raiser. Oder der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker. Dessen Tochter Elisabeth heiratete später Konrad Raiser und war Präsidentin des Deutschen Evangelischen Kirchentages.

„Es war eine evangelische Diskursgemeinschaft, die auch eine löbliche Rolle bei der Reform der Bildungspolitik gespielt hat“, sagt Uwe Kaminsky. Man wollte eine bessere Pädagogik, auch mit einer nun enttabuisierten Sexualität. Doch förderte die angestrebte Reform ungewollt auch jene Haltungen, die sexualisierte Gewalt und ihre Vertuschung ermöglichten.

„Personen wie Gerold Becker waren Vorkämpfer einer befreiten Sexualmoral. Allerdings agierten sie vor dem Hintergrund eigener pädosexueller Bedürfnisse“, sagt Uwe Kaminsky. Gerold Becker, Lebensgefährte des prominenten Pädagogen Hartmut von Hentig, trat erstmals 1969 bei einem Kirchentag auf. Er war wesentlicher Gestalter der Foren »Kinder und Erziehung«. Dann wurde Becker im März 1992 auch in die Kammer der EKD für Bildung und Erziehung berufen. Später saß er sogar mit im Präsidium des Evangelischen Kirchentages.

Gerold Becker galt als Experte für Reformpädagogik, weil er über viele Jahre die freie Odenwaldschule leitete. Genau die Schule, in der es über Jahrzehnte zu sexuellen Missbrauch kam, was allerdings erst 1999 in einem Artikel in der Frankfurter Rundschau bekannt wurde.

Auch der Reformpädagoge Hartmut von Hentig saß im Präsidium des Kirchentages und trat auf den Kirchentagen als Experte auf. Nach heutigem Kenntnisstand war er kein Missbrauchstäter. Aber als Lebenspartner von Gerold Becker wird ihm eine Mitwisserschaft unterstellt, was er stets bestritt.

Als dritter wurde der Sozialpädagoge Helmut Kentler zu Kirchentagen eingeladen. Er wollte sich von autoritären Umgangsformen abkehren und Jugendliche mitbestimmen lassen. Kentler bekannte sich zu seiner eigenen »sexuellen Befreiung« in der Gruppe „Homosexualität und Kirche“ HuK. Er hat allerdings auf Kirchentagen nie offen für Pädosexualität geworben. Aus taktischen Gründen, wie er schrieb, um den Kampf der Homosexuellen für ihre Gleichberechtigung nicht zu gefährden.

Kentler rechtfertigte aber in Publikationen jenseits des Kirchentages pädosexuelle Handlungen, ohne dass ihm in der Öffentlichkeit, geschweige denn auf den Kirchentagen widersprochen wurde. Seine Ansätze wurden sogar im so genannten „Kentler-Experiment“ staatlich gefördert. Kentler vermittelte mit Wissen der Berliner Senatsverwaltung verhaltensauffällige Jugendliche an Pflegeväter, die wegen sexuellen Missbrauchs vorbestraft waren. Der Missbrauch an den Minderjährigen ging dort weiter.

Alle drei Männer konnten also über Jahre ungehindert auf Kirchentagen auftreten. Sexuelle Übergriffe wurden dort allerdings nicht dokumentiert. Uwe Kaminsky schreibt in seinem Fazit:

„Die innerkirchlichen Formen der Vergemeinschaftung mit den Elementen von Liebe, Vertrauen, Konsens, Fürsorge oder Anwaltschaft machten den Kirchentag ebenso wie die Evangelische Kirche anfällig für diejenigen Elemente der Reformpädagogik, die sexuellen Missbrauch begünstigten und Tätern Räume eröffneten.“

2010 begann die große öffentliche Debatte über sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen. Spätestens da hätte sich der Kirchentag von seinen früheren Protagonisten distanzieren müssen, sagt Kristin Jahn, derzeitige Generalsekretärin des Kirchentags auf einer Pressekonferenz Ende November:

„Der Kirchentag hat sich damals 2010 weder von den Personen distanziert noch sofort eine Aufarbeitung initiiert. Allen drei Protagonisten wurde unhinterfragt eine Bühne geboten. Aus diesen offenen Fragen ergibt sich für uns als Kirchentag unsere besondere Verantwortung. Das Denken des Undenkbaren muss noch gelernt werden. Der Kirchentag ist nicht der bessere Ort.“

Nun soll das Schutzkonzept für den kommenden Kirchentag 2025 in Hannover nochmals verbessert werden. Denn, so der ehemalige Kirchentagspräsident Thomas de Maizière, die Tatsache, dass keine Taten der Reformpädagogen auf dem Kirchentag nachweisbar seien, bedeute nicht, dass es keine Taten gegeben habe.

Uwe Kaminsky, Zur Rolle von Hartmut von Hentig, Gerold Becker und Helmut Kentler beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, EVA Leipzig, 240 Seiten, 38,00 €, ISBN 978-3-374-07742-7

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