KERWA FOREVER (Teil 2)
Kirchweihfest ohne Kirche?

KERWA – Die Kirchweih ohne Kirche

Man könnte die KERWA als ein anthropologisches Experiment im Festformat beschreiben: eine kollektive Feier, deren ursprünglicher Referenzpunkt systematisch entleert und dennoch unverwüstlich mitschwingt. In der südthüringisch–oberfränkischen Festlandschaft ist sie das, was die Akupunktur im Körper ist – ein kleiner Einstich ins Gewebe der Jahreszeiten, der merkwürdigerweise das Ganze belebt.

In vielfältiger Varianz oberfränkischer Sprach-Dialekte immerhin verdichtet zum knackigen  Begriff „KERWA“, trägt das, was damit gemeint ist, den semantischen Restglanz des ehrwürdigen „Kirchweih“-Begriffs wie eine alte Medaille, deren Gravur man nur noch unter schrägem Licht erkennt. Sie ist Teil eines Mundraum-Kartells, das von Sonneberg über Hildburghausen bis ins Oberfränkische reicht, wo der Dialekt eine gemeinsame Frequenz hält, auch wenn Lokalpatrioten über Grenzziehungen streiten.

Dass die KERWA in der DDR nicht abgeschafft werden konnte, ist eine kulturpolitische Fußnote von seltener Ironie. Man konnte Kirchen sprengen, Glocken einschmelzen, Pfarrhäuser enteignen – aber man konnte den Reflex, im Spätsommer oder Frühherbst einen Holzfußboden ins Festzelt zu legen und sich in einem halb-erhitzten Rausch um ihn herum zu bewegen, nicht tilgen. Selbst das staatliche Versuchslabor des „Arbeiter- und Bauernstaates“ brachte es nicht fertig, das Kirchweihfest in ein glaubwürdiges „Erntedank der Werktätigen“ umzuprogrammieren.

Merkwürdig bleibt allerdings das Resultat: Die Kirche als geweihtes Gebäude, als architektonische Erinnerung an einen Engel oder einen Heiligen, ist aus der Choreografie der KERWA weitgehend verschwunden. Man feiert sie ohne ihr Subjekt. Das ist, metaphorisch gesprochen, eine Schlangenbeschwörung ohne Schlange, ein Himalaya-Aufstieg ohne Himalaya, ein Sinfoniekonzert ohne Orchester.

Was bleibt, ist ein schwebender Restgedanke: Die Kirche, abwesend und doch gegenwärtig wie ein ungespieltes Thema in einer Symphonie, stellt aus der Ferne eine Frage, die nicht ganz stirbt: Wen oder was feiert ihr? Worauf leert ihr das Glas? Und was bleibt, wenn das Zelt wieder abgebaut ist?

Solange diese Frage nicht im Getöse der Bierbänke endgültig vernarbt, bleibt die KERWA mehr als eine volkstümliche Resteverwertung vergangener Sakralzeiten. Sie wird zum paradoxen Memorial: ein Fest, das den Verlust seiner Mitte austrägt und gerade dadurch die Mitte in Abwesenheit behauptet.

So betrachtet, ist die KERWA eine Form von unbewusstem Religionsphilosophie-Unterricht im Dialektmodus. Sie zeigt, dass der Mensch nicht nur im Besitz, sondern auch im Verlust etwas feiern kann – und dass Abwesenheit manchmal das stärkste Anwesendsein ist. Beschreibbar mit dem Begriff „Postkirchlicher Eucharistie“.

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer

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