… raus aus dem Dauerstream
Nicht-Mehr-Präsent-Sein-Müssen

Die Lust am Nicht-Mehr-Präsent-Sein-Müssen – Ein Altersluxus

Es gibt einen Gedanken, den man in den ersten fünfzig Lebensjahren gar nicht ernst nehmen kann, weil der Körper in dieser Zeit ein zu aufdringlicher Gesellschafter ist. Er will ständig etwas: Wärme, Kälte, Essen, Trinken, Beischlaf, Bewegung, Ruhe, Bewunderung – eine endlose Bedürfnis-Parade, die mit den Zumutungen der Arbeitswelt und der ständigen Selbstinszenierung um die knapper werdenden Ressourcen konkurriert. Solange der Leib sich wie ein hungriger Hund an den Rockzipfel der Seele hängt, kommt niemand auf die Idee, dass sein Verschwinden auch nur ansatzweise angenehm sein könnte.

Aber irgendwann, so zwischen dem dritten orthopädischen Notfall und dem ersten Herzrhythmusmonitor, ändert sich das Verhältnis: Man beginnt den Körper nicht mehr nur als Tempel, sondern als Baustelle zu sehen, deren Sanierung zwar theoretisch möglich, aber praktisch völlig sinnlos ist. Der Gedanke, diesen Immobilienkomplex eines Tages einfach an den kosmischen Abrissunternehmer zu übergeben, verliert seinen Schrecken und bekommt einen Hauch von Ferienprospekt.

Das „Nicht-mehr-da-sein-Müssen“ ist in diesem Stadium keine Katastrophe, sondern eine Wellness-Option, eine metaphysische Spa-Woche ohne Rückfahrticket.
Es ist, als würde man von einer sehr langen Konferenz erlöst, auf der alle immerzu reden und keiner zum Punkt kommt. Die Aussicht, endlich nicht mehr anwesend sein zu müssen, während sich die Welt weiter im Kreis dreht, ist wie der Gedanke, beim Theaterstück der Menschheit die Bühne seitlich zu verlassen – und die anderen dürfen gern weiterspielen, wenn sie wollen.

Der Schlaf ist der große Botschafter dieser zukünftigen Freiheit. Jedes Abtauchen ins Traumlose ist eine Einladung zur Probe aufs Exempel: Man sinkt ab in das sanfte Unverantwortlichsein, ins Nicht-Antworten-Müssen, ins völlige Ungerührtsein. Die Stille dort unten ist kein metaphysisches Drama, sondern eine perfekte Zimmerakustik: Kein Geräusch, kein Schmerz, keine Pflicht.

In dieser Perspektive verliert auch das alte Versprechen der Auferstehung seinen Pflichtpathos. Denn wenn „Auferstehung“ nicht mehr heißt, mit goldenem Passierschein in eine Art himmlisches Freizeitresort einzuziehen, sondern schlicht „nie wieder von der Pflicht zur Dauerpräsenz bedrängt zu werden“, dann ist das schon mehr als genug. Wer je erlebt hat, wie eine endlose Verpflichtungsliste sich in Nichts auflöst, weiß: Das Paradies hat manchmal die Form eines vollständig leeren Kalenders.

Natürlich könnte das „Mehr“ – die prunkvolle Ewigkeit mit Harfenorchester – schon wieder anfangen, einem auf die Nerven zu gehen. Vielleicht ist die einzig erträgliche Ewigkeit die, die uns nie wieder weckt. Nicht als nihilistische Pointe, sondern als höchste Form der Gastfreundschaft des Seins: „Bleib liegen, alter Freund, wir kommen ohne dich zurecht.“

Also, noch mal mit etwas anderen Worten: Die Zivilisation des 21. Jahrhunderts kennt keine Pausen mehr. Sie läuft wie ein globales Dauerfernsehprogramm, das nie abschaltet – selbst um drei Uhr nachts kann man noch sehen, wie irgendwo in Jakarta eine Influencerin live ihre Zähne putzt, während in Los Angeles ein Politiker seinen Rücktritt in Echtzeit dementiert. Wir sind zu Teilnehmern eines kollektiven, lückenlos überwachten „Immer-Jetzt“ geworden, in dem der einzige Skandal die Abwesenheit ist.

In diesem Setting bekommt der Gedanke an das „Nicht-mehr-da-sein-Müssen“ eine ganz neue Attraktivität. Er ist der radikalste, nicht sanktionierbare Akt der Verweigerung: die endgültige Abmeldung aus der Daueranwesenheitspflicht. Kein Log-out, der Rückkehr impliziert, sondern ein Abschalten, das keine Systemmeldung mehr erzeugt.

Man muss alt genug werden, um den Reiz dieser Option zu begreifen. Vorher hält man das Leben für eine Art Pflichtseminar mit Anwesenheitsliste, in dem jedes Verpassen von Minuten mit Punktabzug bestraft wird. Erst wenn der Körper beginnt, die eigenen Ambitionen zu unterwandern – durch Zipperlein, durch schleichende Leistungsverweigerung, durch den kleinen täglichen Verrat der Kräfte –, erkennt man: Die Welt wird auch ohne einen selbst nicht kollabieren.

Die Vorstellung, eines Tages einfach nicht mehr teilnehmen zu müssen, wirkt dann wie ein heimliches Upgrade. Es ist, als hätte jemand einen „Nicht-stören“-Button ins kosmische Betriebssystem eingebaut, den man irgendwann drücken darf. Kein Meeting, keine Mitteilungen, kein Pflichtsmalltalk mehr. Wer sich jemals von einer WhatsApp-Gruppe abgemeldet hat, in der seit Jahren dieselben drei Leute dieselben zehn Bilder teilen, kennt das Gefühl im Kleinen.

Der Schlaf ist dabei die tägliche Generalprobe für den Ernstfall. Er zeigt, dass Bewusstseinspausen nicht nur erträglich, sondern hochwillkommen sein können. Man liegt da, das eigene Theaterstück läuft weiter ohne einen, und die Welt merkt es nicht einmal. Das ist der heimliche Triumph: Unentbehrlichkeit ist ein Mythos, und das Aufgeben derselben eine Befreiung.

In dieser Logik schrumpft die klassische Idee der Auferstehung – ewige Wachheit im Festsaal der Seligen – zu einem kulturhistorischen Sonderfall zusammen. Für eine Generation, die von der totalen Erreichbarkeit erschöpft ist, könnte das Paradies schlicht darin bestehen, nie wieder „online“ sein zu müssen. Keine Harfe, kein Lichtmeer, kein himmlisches Dauerprogramm – sondern eine makellose Endstille, die nicht nach uns fragt.

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer

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