Wie Alexander Garth die Kirche gestalten will
Warum evangelisch?

Luthers Predigtkirche: Alexander Garth vor dem Reformationsalter in der Wittenberger Stadtkirche St. Marien. Seit 2016 ist er dort als Seelsorger tätig. Mit dem Projekt "church@night" hat er ein neues Gottesdienstformat initiiert, mit dem er junge, kirchenferne Menschen ansprechen möchte.  | Foto: Thomas Klitzsch
  • Luthers Predigtkirche: Alexander Garth vor dem Reformationsalter in der Wittenberger Stadtkirche St. Marien. Seit 2016 ist er dort als Seelsorger tätig. Mit dem Projekt "church@night" hat er ein neues Gottesdienstformat initiiert, mit dem er junge, kirchenferne Menschen ansprechen möchte.
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Zukunftsfähige Kirche: Mitgliederschwund, Pfarrermangel, Traditionsabbruch – in keiner Landeskirche dürfen Konferenzen und Workshops fehlen, die sich mit der Perspektive der verfassten Kirche beschäftigen. Eine Zeitansage zum Reformationstag.

Von Alexander Garth
Das Gerede von der Kirchenkrise geht mir ziemlich auf die Nerven. Es ist provinziell und eurozentrisch. Weltweit boomt das Christentum in einem unvorstellbaren Ausmaß. Neue geistliche Bewegungen entstehen. Christliche Gemeinden werden in großer Zahl gegründet und verändern die religiöse Landschaft. Besonders auf der Südhalbkugel und in Ostasien multipliziert sich das Christentum.
Allein der linke Flügel der Reformation, die Pfingstkirchen, haben innerhalb eines Jahres weltweit eine Zuwachsrate von 20 Millionen neuer Gläubiger und werden 2050 über eine Milliarden Anhänger zählen. Auch die Katholische Kirche wächst außerhalb Europas atemberaubend. Die Zahl der Katholiken hat sich in Afrika in den letzten 25 Jahren verdoppelt auf etwa 243 Millionen.

Notstand in Europa

Wie religionssoziologische Erhebungen zeigen, werden beide Religionen, Christentum und Islam, etwa gleichermaßen wachsen. Der Grund liegt vor allem in der Bevölkerungsexplosion unter den Armen dieser Erde. Das Christentum hat aber einen weiteren Wachstumsfaktor, der im Islam kaum eine Rolle spielt: Es wächst auch durch Mission, wobei besonders die phänomenale missionarische Dynamik der Pfingstkirchen zu nennen ist. In Zukunft werden auch weiterhin auf drei Christen zwei Muslime kommen.
Angesichts dieser Entwicklung fragt man sich verwundert: Was ist bloß mit Europa los? Ein ganzer Kontinent verabschiedet sich von seinen christlichen Wurzeln. Besonders akut ist der Niedergang in Deutschland. Europa ist zum christlichen Notstandsgebiet geworden. Die in über eintausend Jahren gesammelten Ressourcen der Kirchen an Immobilien, Finanzen und Privilegien täuschen darüber hinweg, dass sich die spirituelle Substanz langsam verflüchtigt und dass den Kirchen ihr wichtigstes Gut ausgeht, der Glaube an den dreieinigen Gott und die Faszination an Jesus Christus, den Ursprung und Kern dieser Bewegung.
Europa ist eine säkulare Insel im religiösen Meer. Während das Christentum bei uns eigenartig müde, überaltert und resigniert wirkt, entfaltet der Glaube in den meisten Regionen der Erde eine anziehende Dynamik. Ist der christliche Glaube ein Auslaufmodell in Europa, besonders auch in Deutschland?

Kirchenmodell hat ausgedient

Der Niedergang des Glaubens in Europa ist ein Prozess mit komplexen Ursachen, die sich aber in einer Grundthese zusammenfassen lassen. Wir haben ein Kirchenmodell geerbt, das in einer freien liberalen Gesellschaft zunehmend nicht mehr funktioniert: das Modell einer Volkskirche in protestantischer und katholischer Version. Ihr wichtigstes Kennzeichen: Fast alle Bürger gehörten zu ihr, mit Ausnahme der Juden, für die ein Sonderstatus galt. Volk und Kirche waren zwei fast identische Größen.
Als es nach der Abschaffung des Taufzwanges 1875 auf einmal möglich wurde, ohne Kirche zu leben, setzte ein langer Prozess ein, in dem Glaube und Kirchenmitgliedschaft immer mehr zur Option, zur freien Entscheidung des Einzelnen wurde. Musste man sich vor 70 Jahren noch rechtfertigen, wenn man aus der Kirche austrat, so gerät man heute zunehmend unter Begründungszwang, wenn man noch dabei ist. Die Situation, in der Glaube selbstverständlich war, hat sich gründlich gewandelt. Die Religionssoziologie konstatiert zwei religiöse Megatrends: Der Niedergang institutioneller bzw. geerbter Religion und der Aufstieg individueller bzw. gewählter Religion.

Religion der Zukunft

Wir erleben gerade, wie die Ära der Volkskirche langsam zu Ende geht. Ihr Beginn geht bis in das Jahr 380 n. Chr. zurück, als aus dem Christentum eine Staatsreligion wurde und damit zur verbindlichen Religion für alle Bürger. 1500 Jahre lang war Religion etwas, das man übernimmt. Man wurde automatisch in eine Religion hineinsozialisiert durch das gesamte soziale und politische Umfeld. Die Kirche der Vergangenheit hatte es nicht wirklich nötig, Menschen zu gewinnen, da ja alle irgendwie dazu gehörten. Sie verlernte in ihrer langen volkskirchlichen Geschichte das, was sie heute dringend braucht: missionarische Kreativität, Motivation, Kompetenz und Vollmacht. Genügte es früher, einfach mit der Kirche und mit der Gesellschaft irgendwie an Gott zu glauben, brauchen die Menschen heute Gründe für den Glauben und persönliche Zugänge dazu. Sie müssen als Einzelne gewonnen werden.
Die Religion der Zukunft wird gewählte Religion sein. Das geerbte Religionssystem, das daran gewöhnt war, dass die Leute einfach da sind, ist überfordert mit dieser neuen Situation einer offenen und liberale Gesellschaft, wo Religion frei gewählt wird aus unterschiedlichsten religiösen und weltanschaulichen Angeboten. Warum Jesus und nicht Buddha oder Mohammed? Warum das Christentum und nicht Atheismus? Warum evangelisch? Die gegenwärtige Glaubenskrise ist vor allem eine Modellkrise. Mit dem Niedergang der Volkskirche geht indes keineswegs die Kirche Jesu unter. Die gedeiht besser unter anderen Bedingungen und mit einem anderen Betriebsmodell, wie wir an dem weltweiten Aufbruch des Christentums erkennen können.
Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser neuen Situation für die Kirche, wenn sie nicht in der Bedeutungslosigkeit versinken will? Ich sehe vor allem drei Aufgabenfelder:

Systemwechsel unvermeidbar

Die Kirche in einer liberalen, offenen Gesellschaft, in der die Menschen Religion wählen, muss Mission und Konversion zu ihrem Hauptthema machen. „Bekehrung“ war in der Vergangenheit der Kirche weithin ein Fremdwort. Der Kirchenbetrieb bestand vor allem darin, Kirchenmitglieder zu betreuen und geistlich zu begleiten. Die Kirche der Zukunft wird ihre Hauptaufgabe darin sehen, Menschen für das Christusheil zu gewinnen. Das bedeutet im Grunde ein Systemwechsel von einer Betreuungskirche hin zu einer Missionskirche. Dieser Umbau ist alternativlos, wenn die Kirche nicht der Bedeutungslosigkeit und Marginalisierung anheimfallen will.
Die Kirchen müssen eine kontextuale Konversionstheologie entwickeln. Die Fragen „Wie wird man Christ? Wie bleibt man Christ?“ werden von zentraler Bedeutung. Konversion bedeutet eine dreifache Bekehrung: Erstens zu Jesus als dem Heiland der Welt, zweitens zur Kirche als Gottes Instrument, der Welt das Christusheil in Wort und Tat zu bringen, und drittens Bekehrung zur Welt, um zum Segen für Mensch und Schöpfung und zur Freude des Himmels darin zu wirken.
Der große katholische Theologe Karl Rahner prägte in den 1960er Jahren einen prophetischen Satz, dessen Bedeutung wir heute zunehmend erkennen: „Der Christ der Zukunft wird Mystiker sein. Einer der etwas erfahren hat, oder er wird nicht sein.“ Während in der „Moderne“ rationale Argumente auf dem Weg zum Glauben von großer Wichtigkeit waren, öffnen sich heute Menschen eher durch spirituelles Erleben für das Evangelium, weil sie die Gegenwart Gottes erfahren, weil sie den Windhauch des Himmels vernehmen, weil der Heilige Geist sie umwirbt, damit sie Jesus, den Erlöser erkennen. Rationale Zugänge zum Glauben wie theologische Theorien oder gute Argumente verlieren an Bedeutung.
Der Geist weht nicht einfach wo er will (ein Missverständnis von Johan-nes 3, Vers 8), sondern er bindet sich an das Wort Gottes, an den Glauben, an das Gebet des Glaubens, an Umkehr (Buße) und Beichte und an die Sakramente. Die Charismatiker würden noch die Anbetung und Lobpreis dazu nehmen, was dort eine quasisakramentale Funktion hat. In einer Kirche, in der das Leben der Menschen vom Evangelium, vom Glauben, vom Gebet, von Buße und Beichte, von den Sakramenten und der Anbetung Gottes geprägt ist, werden Menschen zum Glauben kommen und die Kirche wird wachsen.

Gemeindewachstum ist kein Zufall

Gemeinden wachsen, weil sie das wollen. Sie haben den Ruf in die Mission Gottes gehört und ihren Kirchenbetrieb radikal auf Mission umgestellt. Die Neuformatierung geht in Richtung missionarische Kirche: Ortsgemeinden, die Menschen für den Glauben begeistern können, die das Evangelium hinein kommunizieren in die Kultur der konkreten gesellschaftlichen Milieus. Die zentrale Frage der Gemeinde ist nicht mehr „Wie können sich die Kirchenmitglieder bei uns wohl fühlen?“.
Die Christen stellen ihr Gemeindeleben nach den Fragen um: „Wie können die Menschen in unserer Umgebung das Evangelium verstehen und positiv darauf reagieren? Wie können wir die frohe Botschaft hineinsprechen in ihre Kultur und ihre Verstehenswelt? Wie können sie Zugang finden zur dreifachen christlichen Grunderfahrung: Gott liebt mich. Er vergibt mir meine Schuld um Jesu Willen. Er erfüllt mich mit dem Heiligen Geist“?

Der Autor ist Pfarrer in Wittenberg und schreibt Sachbücher zu geistlichen Themen.

Autor:

Online-Redaktion

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