Mama sein trotz Handicap

Maria Sophie Haupt mit ihrem Sohn Philipp | Foto: Dana Toschner

Geistig behinderte Menschen können gute Eltern sein

Von Dana Toschner

Wenn geistig behinderte Eltern Kinder bekommen, stoßen sie meist auf Skepsis und Befremden. Doch sie können gute Eltern sein. Mit pädagogischer und praktischer Unterstützung schaffen es viele, ihren Alltag zu meistern. Im Projekt »Betreutes Familienwohnen« des Cecilienstifts Halberstadt greift man ihnen unter die Arme.
An der Küchentür von Maria Sophie Haupt hängt ein Stundenplan. Statt Mathe oder Deutsch sind Aufgaben wie Ausfegen, Geschirrspülen und Einkaufen vermerkt. Auch die Zeiten, in denen morgens und am späten Nachmittag eine der Betreuerinnen vorbeischaut, sind genau festgelegt. »Der Plan hilft mir, dass ich nichts vergesse«, sagt Maria Sophie Haupt, während sie ihrem Sohn liebevoll übers Haar streicht. Die 29-Jährige ist eine von fünf Müttern, die im »Betreuten Familienwohnen« des Cecilienstifts lebt. Sie ist geistig behindert und froh, nicht ganz auf sich allein gestellt zu sein. Denn der Alltag mit dem siebenjährigen Philipp ist gar nicht so einfach. Es gibt tausend Dinge, an die sie denken muss. Nach der Arbeit in den Diakonie Werkstätten ist die Wohnung in Ordnung zu halten, für Philipp zu kochen, die Wäsche zu waschen, die Freizeit mit dem Kleinen zu gestalten. Die Betreuerinnen helfen zum Beispiel abends, wenn Philipp die Zähne putzt. Oder sie gucken nach, ob er die Schulmappe gepackt hat und ob die Fingernägel sauber sind.
Seit zwei Jahren wohnt die junge Frau in der Halberstädter Einrichtung, vorher hat sie beim Vater gelebt, der sich um alles gekümmert hat. Jetzt ist sie stolz, eine eigene kleine Wohnung mit Philipp zu haben – und trotzdem ein ganzes Team von Helfern im Rücken.
»Dass es solche Einrichtungen wie unsere gibt, ist nicht selbstverständlich«, erzählt die Hausleiterin Sylvia Ohms. »Lange Zeit war es gängige Praxis, dass die Jugendämter die Kinder aus den Familien nahmen, wenn geistig behinderte Menschen Eltern wurden. Sie sind allein nicht in der Lage, ein Kind zu versorgen und zu erziehen. Deshalb wurden die Kinder in Pflegefamilien untergebracht. Manche Mütter haben ihre Kinder im Rahmen des sogenannten begleiteten Umgangs hin und wieder gesehen, andere haben den Kontakt völlig verloren.« Erst seit wenigen Jahren erfolge hier ein Umdenken. »Damit die Kinder bei ihren geistig beeinträchtigten Eltern aufwachsen dürfen, braucht es natürlich entsprechende Hilfesysteme. Und die entstehen erst nach und nach«, sagt Sylvia Ohms.
Ein Grund für das Zögern vieler sozialer Träger sei, dass diese Art der Betreuung personal- und zeitaufwendig ist. Rund um die Uhr sind Fachkräfte vor Ort. Außerdem müssen mehrere Ämter eng zusammenarbeiten. »Bei uns klappt die Abstimmung mit dem Jugendamt zum Glück sehr gut.«
In Halberstadt sei man mutig gewesen und ein Vorreiter in der Region. 2005 wurde das Projekt »Betreutes Familienwohnen« gemeinsam mit dem Landesjugendamt ins Leben gerufen. Eine Frau hat Sylvia Ohms seit ihrer Schwangerschaft 2001 betreut. Deren Junge ist inzwischen 15 und beginnt nächstes Jahr eine Berufsausbildung. »Ich bin damals mit in den Kreißsaal gegangen und habe gestaunt, mit welcher Kraft diese junge Mutter ihr Kind zur Welt gebracht hat. Ich dachte, wenn sie diese Kraft auch in die Erziehung steckt, dann wird es gut gehen.« Heute schaut sie mit Stolz auf den 15-Jährigen.
Für Sylvia Ohms und die anderen Mitarbeiter der Einrichtung ist es selbstverständlich, wenn geistig behinderte Menschen Eltern werden. »Niemand darf wegen seiner Behinderung diskriminiert werden«, steht im Grundgesetz. Und in der UN-Behindertenrechtskonvention wird das Recht von Menschen mit Behinderung auf sexuelle Selbstbestimmung und Elternschaft klar formuliert. Das Sorgerecht darf demnach nur entzogen werden, wenn die zuständigen Behörden entscheiden, dass die Trennung zum Wohl des Kindes notwendig ist. In keinem Fall, so heißt es in Artikel 23, dürfe ein Kind aufgrund einer Behinderung der Eltern von diesen getrennt werden.
Die »begleitete Elternschaft« – so nennt man das Konzept, das dem Familienwohnen zugrunde liegt – ist für alle Beteiligten eine Herausforderung. Für die Mütter, weil sie akzeptieren müssen, dass ständig ein Betreuer an ihrer Seite steht und sie sich kontrolliert und beobachtet fühlen. Für die Betreuer, die sich immer fragen, ob die Kinder auch tatsächlich so viel Förderung bekommen, wie sie brauchen.
»Die Mütter haben das Sorgerecht. Sie müssen lernen, was es bedeutet, die Verantwortung für einen anderen Menschen zu übernehmen«, sagt Sylvia Ohms. »Mit Beständigkeit und Geduld versuchen wir das täglich zu vermitteln.«
Die Kinder geistig behinderter Eltern sind keineswegs automatisch selbst auch beeinträchtigt. Gendefekte, die eine geistige Behinderung auslösen können, werden nur selten an die Kinder vererbt. Trotzdem wird von Anfang an geschaut, welches Kind Logopädie, Ergotherapie oder eine Frühförderung braucht. Auch zu Elternabenden im Kindergarten oder in der Schule werden die Mütter von einer pädagogischen Betreuerin begleitet.
Kathrin Heidecke-Dörr zum Beispiel ist froh über diese Unterstützung. Ihr Sohn Benjamin ist zehn und ein ebenso aufgeschlossener wie wissbegieriger kleiner Kerl. Er sitzt gerade mit einem Betreuer über den Hausaufgaben – in der Küche von »Wolke 7« haben die beiden ihre Ruhe. Hier oben unterm Dach können sich die Kinder nicht nur zum Lernen zurückziehen, sondern auch zum Chillen. Auf Sitzsäcken machen sie es sich gemütlich und spielen eine Runde »Mario Kart Wii«.

Autor:

Kirchenzeitungsredaktion EKM Süd

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