Adventsglimmen

Die wundersame Begegnung auf dem Flohmarkt

Sie war es, ganz klar. Sie ist es gewesen.

Als ich sie sah, war die Entscheidung sofort gefallen.
Falls es auch nur für einen Moment überhaupt meine Entscheidung war.

Es war ihre Ausstrahlung, die mein Herz und meine Seele in ihren Bann zog.

Dabei hat sie nichts getan. Gar nichts. Sie hat sich weder bewegt noch ihren Blick gehoben – geschweige denn etwas gesagt. Sie sitzt einfach nur da – oder besser: sie kniet. Gedankenversunken und in sich ruhend. Als würde sie etwas Unhörbarem lauschen.

Hat sie ihre Lider geschlossen, oder sind ihre Augen ein wenig geöffnet? Das ist schwer zu erkennen. Ihre Gestalt ist anmutig-mädchenhaft, vor der Brust hat sie ihre Hände aneinandergelegt. Fast so, als würde sie beten.

Er steht etwas im Hintergrund. Ich entdeckte ihn erst auf den fünften Blick.
Größer und älter als sie. Auch er richtet seine Augen dorthin, wohin die junge Frau schaut. Beide würdevoll, berührt – und berührend.

Ihr Schöpfer war zweifellos ein erfahrener Meister – und ein genauer Menschenkenner.

Die beiden Figuren wirken wie aus dem Leben gegriffen.
Wie oft wird er zuvor Menschen beobachtet haben? Wie lange hat er sein Schnitz-Handwerk verfeinert?

Es stecken Jahre an Beobachtung und Jahre an Handwerks-Erfahrung in diesen, aus zwei Stücken Lindenholz erweckten Kunstwerken.

Die beiden Figuren sind unter den Fußplatten signiert. Mit schwarzer Handschrift steht da: „M. Steinert“.

Fragen tun sich auf:
Wer ist, wer war M. Steinert? Wann schuf er sie?
Wie lange hat er für sie gebraucht? War es ein Auftragswerk? Wer erwarb sie?

Wo haben sie in den Jahren zuvor gestanden?
Welche Figuren gehörten noch dazu? Wo sind sie geblieben?
Und was ist aus dem geworden, das ihre Blicke auf sich zieht – aus ihrem Kind?

Das Älterwerden bringt es mit sich zu begreifen:
Viele Fragen, die sich im Leben stellen, werden ohne passende Antwort oder auch ganz ohne Antwort bleiben.

Erkannt habe ich die beiden. Das bekannteste Ehepaar der Christenheit.
Es gibt Personen, die kennen Herz und Seele schon lange. Sind vertraut seit vielen Jahren.

Und sie wirken zuversichtlich, gelassen und hoffnungsfroh.
Obgleich sie längst gesehen haben müssen: Dort, wo sie hinschauen, fehlt etwas – ihr Kind ist weg.
Jedoch sind sie ohne Sorge: Ihr Sohn ist auf der Welt – allein das zählt.

Vertrauen, Hoffnung, Liebe. Glaube und Zuversicht.

Wann und wo ich die beiden entdeckt habe? Vor wenigen Wochen auf einem Flohmarkt gleich hier in der Nähe. Auf einem Regal in der Markthalle eines Tierheims mit dem passenden Namen „Gnadenhof“. Umgeben von Alltags-Belanglosigkeiten unserer Zeit.

Mir scheint inzwischen, nicht ich habe sie gefunden. Sie haben mich gefunden.

Welche Entscheidung ich anfangs gemeint habe?
Nun die, den beiden bei mir ihr neues Zuhause zu geben.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich auch nur für einen Augenblick tatsächlich die Möglichkeit einer Wahl gehabt habe.

Ihr Kind ist auf der Welt.
Es geht seinen Weg – von damals bis in unsere Gegenwart.
Was also kann uns schon geschehen – mit ihm an unserer Seite?

Vertrauen, Hoffnung, Liebe. Glaube und Zuversicht.

Sanftfrohes Adventsglimmen der Hoffnung, warmfunkelndes Herzflimmern der Liebe.

Möge dieses Adventsglimmen, dieses Herzflimmern auch zu Dir finden!
Mögest Du eine besinnliche Adventszeit haben!

© Text und Fotos: Holger Zürch – Advent 2024