»Ist eine gescheiterte Ehe Sünde?«

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Wenn eine Beziehung vor der Wahl zwischen weiteren Verletzungen oder dem
Scheitern steht

Von Reiner Knieling

Die Ehe ist für mich eine besondere Form der Verlässlichkeit, um die Liebe zu vertiefen und Momente des Glücks, der Geborgenheit und des schöpferischen Miteinanders zu schützen. Die Ehe ist ein Wert, der tief in unserer Gesellschaft verankert und durch Gottes Gebote geschützt ist. Sie wiederum bewahrt uns Werte wie Verlässlichkeit und Treue. Es ist gut, dass wir diese Form haben und dass wir bestrebt sind, sie nicht leichtfertig aufzugeben.
Aber das Leben lässt sich manchmal nicht schützen. Es kommt vor, dass das, was als Schutz für die Liebe gedacht war, zum Ort für Verletzungen wird. Dass Leben gerade dort besonders beschädigt wird, wo es sich entfalten sollte.
Natürlich: Solche Erfahrungen gibt es in jeder Beziehung, in jeder Ehe. Zum Glück sind es oft nur Momente oder Phasen, die vorübergehen. Was aber ist, wenn sie bleiben? Wenn sie chronisch werden und Menschen auf Dauer kaputtmachen?
Ich spreche als einer, der das durchlebt und durchlitten hat. Zweimal. Mein Buch »Mit Scheitern leben lernen« ist aus der Auseinandersetzung mit der ersten Trennung entstanden. Bei einer Lesung wurde ich gefragt: »Ist eine gescheiterte Ehe Sünde?« »Natürlich!«, habe ich geantwortet. Die Frage ist nur, was die größere Sünde ist: Eine Beziehung zu beenden oder in einer nicht funktionierenden Partnerschaft zugrunde zu gehen. Manchmal gibt es nur zwei schlechte Wege: Bleiben und sich arrangieren. Oder auseinandergehen.
Wie gehen wir mit diesem Konflikt um? Gottes Gebote, gesellschaftliche Werte, eigene Ideale sind gut. Aber ein Teil unserer Wirklichkeit will dem einfach nicht entsprechen. Viele versuchen, die Wirklichkeit so gut es geht zu verdrängen. Sie wollen den Schein wahren und es vor anderen geheim halten, um den Konflikt mit den eigenen Werten oder Gottes Geboten nicht spüren zu müssen. Doch irgendwann wird das anstrengend. Es entsteht eine Doppelmoral und andere spüren die Unehrlichkeit. Manche werden sogar krank dabei.
Andere versuchen, die Werte und Ideale zu reduzieren und der Wirklichkeit anzupassen. Damit geht aber das Korrektiv verloren und die Spannung, die das Leben interessant macht. Die Welt wird nicht besser, wenn die Gebote soweit relativiert werden, dass sie unserem durchschnittlichen Leben entsprechen, nur damit wir das Gefühl nicht aushalten müssen, zu versagen. Wenn wir ehrlich sind, spüren wir, dass wir uns durch diese Relativierung am Ende selbst betrügen.
Es gibt einen dritten Weg, diese Spannung zwischen Werten und Wirklichkeit nicht aufzulösen, sondern produktiv damit umzugehen. Dieser dritte Weg ist, dass ich mich mit meiner ganzen Wirklichkeit auf Gott ausrichte. Als einer, der seinen Werten treu sein will, es aber nicht kann. Für mich waren in den brüchigen Zeiten meines Lebens die Gebete der Bibel eine entscheidende Hilfe. Sie gaben mir Worte, mit denen ich mein Erleben und Gott in Beziehung setzen konnte. Sie halfen mir, mich nicht nur mit den angenehmen Seiten, sondern auch mit den anderen Facetten auf Gott auszurichten: mit dem eigenartigen Gemisch aus Schmerz, Trauer, Wut, aber auch mit der Erleichterung und Zukunftshoffnung.
Ein Beispiel dafür sind die Psalm-Übertragungen von Pierre Stutz:

Zerschlagen die Hoffnung miteinander
ein Stück Weg zu gehen
hart anzunehmen
dass Berührung nicht mehr möglich ist
traurig die Erfahrung einander zu bekämpfen

(Pierre Stutz, aus: Du hast mir Raum geschaffen, 29, nach Psalm 18,29-30)

Ich verstecke mich vor mir
schwer fällt es mir
der Wahrheit ins Gesicht zu schauen
die Angst vor Veränderung ist zu groß
Ich halte Ausschau nach Menschen
die mir entgegenkommen
mir weiten Raum
für meine schwachen Seiten zugestehen
Doch sie sind nicht da
so wenig wie ich da bin
um mir Versagen einzugestehen
Du lass mich diese Nacht
Dein Entgegenkommen erfahren

(Pierre Stutz, aus: Du hast mir Raum geschaffen, 30 und 14, nach Psalm 19,13 und 4,2)

Ich habe Gottes Entgegenkommen in verschiedenen Momenten erlebt. In einem Traum, der mir Geborgenheit schenkte, als meine Familie gerade auseinanderbrach. In der Umarmung eines Freundes, die ich fast bis heute spüre. Auch in der theologischen Entdeckung, dass Gottes größter Liebes­beweis das Leben ist – wie es die Auferweckung Jesu zeigt.
Menschen hatten ihn geopfert und Gott hat nicht etwa mit Gegengewalt geantwortet. Er hätte allen Grund dazu gehabt. Gott jedoch antwortete vielmehr mit Leben und Liebe. Jesus macht den Jüngern keinen Vorwurf, dass sie ihn verlassen hatten und nicht treu waren. Auch sie wollten ihren
Werten treu bleiben, konnten es aber nicht. Sie erlebten, wie ihre ganze brüchige Wirklichkeit bei Gott ihren Platz fand. Sie erlebten, wie ihre Herzen mit Geistkraft erfüllt wurden und Gottes Liebe einsickerte.
Auch ich merkte: Ich bin einer, in den das Leben und die Liebe dort einsickern, wo Dinge zerbrechen oder zu Ende gehen. Dort, wo menschliche Liebe an ihre Grenzen kommt, auch innerhalb einer Ehe. Wo Verletzungen und Abbrüche nicht mehr zu vermeiden sind, gießt Gott seine Lebensliebe aus. Das ist die Botschaft von Kreuz und Auferstehung. Und das ist die Erfahrung, die viele Menschen verbindet.

Der Autor ist promovierter Theologe und Leiter des Gemeindekollegs der VELKD in Neudietendorf

Reiner Knieling: Mit Scheitern leben lernen. Erfahrungen – Verheißungen – Hilfestellungen. Neukirchener Verlag, 128 S., ISBN 978-3-7615-5462-3, 6,99 Euro
Bezug über den Buchhandel oder den Bestellservice Ihrer Kirchen­zeitung: Telefon (0 36 43) 24 61 61

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Autor:

Adrienne Uebbing

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