Nachgefragt
Diakonie im Ausnahmezustand

Christoph Stolte  | Foto: Diakonie Mitteldeutsch-land/Frieder Weigmann
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Corona, Impfpflicht, Pflegenotstand, Flüchtlingshilfe – Haupt- und Ehrenamtliche in Kirche und Diakonie arbeiten oft am Limit. Willi Wild sprach mit dem Vorstandsvorsitzenden der Diakonie Mitteldeutschland, Christoph Stolte, über Wertschätzung und Nächstenliebe.

Wie kommt die Umsetzung der Impfpflicht im Pflegebereich in der Diakonie voran?
Christoph Stolte: Am 15. März haben die diakonischen Einrichtungen den örtlichen Gesundheitsämtern gemeldet, welche Mitarbeiter einen ungeklärten Impfstatus haben. Das Prüfverfahren wird nach den Zeitplänen der Länder mindestens bis Mitte August laufen. Erst dann könnte es sein, dass ein Beschäftigungs- und Betretungsverbot ausgesprochen wird. Allerdings ist in den Anwendungserlassen auch geregelt, dass die Notwendigkeit der Einrichtung, Personal vorzuhalten, höchste Priorität hat.
Wir gehen davon aus, dass, wenn die Einrichtungen alle Mitarbeiter brauchen, es zu keinen Betretungs- und Beschäftigungsverboten kommen wird. Und die Perspektive ist: Ende des Jahres ist das Gesetz mit der Impfpflicht schon wieder passé, nämlich ungültig. Letztlich hat das Gesetz überhaupt keine Wirkung und nur sehr viele Menschen mit der Umsetzung beschäftigt. Damit wurden die Versorgungsstrukturen irritiert. Solche unsinnigen Verordnungen muss der Gesetzgeber nicht machen.

Welche Reaktionen bekommen Sie aus den diakonischen Einrichtungen?
Mitarbeiter fühlen sich gekränkt und verletzt. Sie haben seit Anfang der Pandemie ihren Dienst getan, viele Sonderschichten unter erschwerten Arbeitsbedingungen geleistet. Diejenigen, die sich ständig testen lassen, werden mit Misstrauen überzogen. Nach dieser Zeit sowie einem eingeführten Testregime heißt es plötzlich: “Ihr seid eine Gefahr!“ Das hätte man vermeiden können, indem man den Pflegekräften mit Wertschätzung begegnet und sie nicht stigmatisiert.

Gab es deswegen Kündigungen? Hat sich der Krankenstand erhöht?
Kündigungen gab es nicht. Der Krankenstand war in den vergangenen Wochen sehr hoch. Die Omikron-Welle hat ganz heftig zugeschlagen. Wir haben ohnehin seit Februar eine schwierige Personalsituation. Wir haben die Hoffnung, dass sich mit einem möglichen Abschwächen der Pandemie auch die Personalsituation wieder entspannt. So schlimm wie im Moment war es in den vergangenen zwei Jahren nicht.

Seit Putins Krieg in der Ukraine wird über die Einführung der Wehrpflicht diskutiert. Könnte ein Ersatzdienst ein Marketing-Instrument für den Pflegenachwuchs sein?
Ich wünsche mir, dass mehr Menschen ihre berufliche Perspektive in den Einrichtungen der Diakonie sehen. Aber ich halte nichts von der Wiedereinführung der Wehrpflicht und schon gar nicht, um damit Zivildienstleistende für die Pflege zu bekommen. Ich halte auch nichts von einem sozialen Pflichtjahr. Es ist eine irrige Annahme, dass man darüber billige Arbeitskräfte rekrutieren könnte.
Wir brauchen eine Stärkung der Freiwilligendienste. Es wäre hilfreich, wenn beispielsweise das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) oder der Bundesfreiwilligendienst (BFD) deutlich besser ausgestattet würden. Eine eigene Entscheidung anstatt einer Pflicht beinhaltet meist eine höhere Motivation, sich zu engagieren. Da sehe ich viel Potential.

Die Diakonie ist stark in der Flüchtlingshilfe engagiert. Wie ist diese Hilfe organisiert?
Das läuft zunächst dezentral, weil die Kommunen für die Unterbringung zuständig sind. Seit 2015 haben wir ganz stabile Netzwerke in den Landkreisen, zwischen den Kommunen und den Anbietern im Bereich Migration. Die Runden Tische sind sofort wieder aktiviert worden.
Es gibt in Kirchengemeinden und diakonischen Einrichtungen eine hohe Bereitschaft, sich unkonventionell zu engagieren. Da bin ich auch stolz auf die Diakonie. Hier schlägt unser Herz als Diakoniker, Menschen zu unterstützen.

Erleben Sie eine Migrationshierarchie, je nachdem, aus welchem Land die Geflüchteten zu uns kommen?
Wir haben jetzt Flüchtlinge erster und zweiter Klasse. Ist das politisch gewollt? Ukrainische Flüchtlinge werden gleich dezentral untergebracht und bekommen sehr schnell Wohnungen und eine Arbeitserlaubnis. Die Integration fällt uns natürlich leichter, weil hier Europäer zu uns kommen. Aber trotzdem ist das nicht richtig.
Was ist zum Beispiel mit den afghanischen Ortskräften? Sie kommen in die zentralen Aufnahmestellen und sind kulturell von uns weiter entfernt. Ich habe den Eindruck, dass diese Menschen nicht gleichermaßen willkommen sind. Ich kann nachvollziehen, dass es einfacher ist, Menschen zu integrieren, die uns kulturell vielleicht näher sind, aber Nächstenliebe kennt diese Unterschiede nicht.

Autor:

Online-Redaktion

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