1989 und die Folgen
Historiker Kowalczuk zur gefährdeten Demokratie

- Seit 2023 erinnern in Magdeburg zwei Stelen aus Glas an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Zentraler Ort der Proteste war die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei, heute das Dienstgebäude des Ministeriums für Innneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt.
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„Ich möchte meinen Vortrag euch widmen“, sagte Ilko-Sascha Kowalczuk, sich an die Kinder des Jungen Ökumenischen Chores wendend. Der renommierte Historiker hielt am 17. Juni 2025 in Magdeburg den Vortrag beim traditionellen Ökumenischen Empfang der Kirchen in Sachsen-Anhalt für Landtag und Landesregierung.
Von Angela Stoye
„Freiheit und Demokratie“, fuhr er fort, seien „in unserer Gegenwart so bedroht wie lange nicht“. „Demokratie und Freiheit sind keine Gottesgeschenke, sondern menschengemacht.“ Daher könnten Menschen sie wieder zerstören. Freiheit sei eines der großen Menschheitsthemen.
Kowalczuk erinnerte an das Geschehen am 17. Juni 1953 in der DDR als einen „wahren Volksaufstand“. „Der Funke war von Ostberlin auf das gesamte Land übergesprungen“, so der Historiker. Allein in Magdeburg seien etwa 50.000 Menschen auf die Straße gegangen. „Bei den Kommunisten saß der Schock tief.“
Heute höre man viel über eine DDR, „in der ich nicht gelebt habe“, so der in Ostberlin geborene und aufgewachsene Wissenschaftler. Vieles werde romantisiert. Ostdeutsche würden sich als Opfer eines Geschichtsprozesses darstellen. Der 9. Oktober 1989 (Demonstration von 70.000 Menschen in Leipzig – Anm. der Red), der 9. November 1989 und der 18. März 1990, der Tag der freien Volkskammerwahl, seien Zäsuren gewesen. Die Bevölkerung der DDR habe so schnell wie möglich Teil der BRD werden wollen. Kowalczuk erinnerte an die Dynamik der Ereignisse in dieser Zeit und an den Druck innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft. Eine bekannte Parole bei Demonstationen nach dem Mauerfall – „Helmut Kohl, nimm uns an die Hand und führ' uns in das Wirtschaftswunderland“ - zeige ein paternalistisches Staats- und Gesellschaftsverständnis.
Jahrzehntelang habe man nur über die fiskalischen Folgen der Wiedervereinigung gesprochen. Erst seit kurzem spreche man auch über die kulturellen Folgen, über die Verwerfungen aus dieser Zeit. „Die D-Mark hat das System radikal verändert.“ Von den etwa 9,5 Millionen Arbeitnehmern in Ostdeutschland hätten sich die meisten im staatlichen Beschäftigungssystem befunden, in der Folge hätten sich etwa 80 Prozent eine neue Arbeit suchen müssen. Der Wegfall des gesellschaftlichen Systems habe einen „ungeheuren Phantomschmerz“ produziert. Zwar habe die Mehrheit den radikalen Wandel gewollt, aber: „Was kann man Menschen zumuten?“ Im Streit darüber, was die DDR war, werde deshalb viel über Verluste geredet.
Mit Blick auf die Gegenwart in der westlichen Welt sagte Kowlczuk: „Wenn ich höre, dass wir in einer Quasi-Diktatur leben, wird mir nicht nur schlecht, sondern dann werde ich wütend.“ In den USA gebe es eine fast ohnmächtige Gesellschaft. Das drohe uns auch. Die Ursachen lägen viele Jahre zurück – Kowalczuk sprach von einem „Ursachenbündel“. Aber am Ende gehe es immer um Verlustängste.
Der Historiker mahnte an, aus der allgemeinen Erregung herauszukommen. In einer freien Gesellschaft erreiche man nie alle Menschen. Deshalb müssten sich Politiker vor allem um die kümmern, die für eine freie Gesellschaft seien. Man müsse unterscheiden zwischen einem politischen Gegener, mit dem man Kompromisse aushandeln könne, und einem politischen Feind, „mit dem es kein Zusammengehen und Koalieren geben kann“. Es gehe um nichts weniger als um unsere Freiheit. „Hier wird entschieden, wie wir mit der Demokratie umgehen.“ Menschenfeindlichen Äußerungen sei entgegenzutreten. „Alles andere ist Verrat an der Freiheit.“
Autor:Angela Stoye |
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