Pietismus: Gefühlsbetonte Frömmigkeit prägte die Kirchenliedliteratur
Den Glauben zur Herzenssache machen

Beim Blättern im Evangelischen Gesangbuch stoßen wir auf zahlreiche pietistische Lieder, die auch heute noch gern gesungen werden.
Von Michael von Hintzenstern

Zu ihnen zählt Nummer 251, deren erste Strophe lautet: »Herz und Herz zusammen / sucht in Gottes Herzen Ruh. / Lasset eure Lebensflammen / lodern auf den Heiland zu. / Er das Haupt, wir seine Glieder, / er das Licht und wir der Schein, / er der Meister, wir die Brüder, / er ist unser, wir sind sein.« Was Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf da in Gedichtform gebracht hat, bringt das Anliegen des Pietismus auf den Punkt. Es ging darum, die als Erstarrung wahrgenommene Rationalisierung der Theologie aufzubrechen und Glauben wieder zur Herzenssache zu machen. Die direkte Annahme der biblischen Botschaft und ein lebendiger Umgang mit ihr standen im Vordergrund.
Der durch persönliche Bekehrung und gefühlsbetonte Frömmigkeit geprägte Pietismus entwickelte sich seit 1670 zur bestimmenden Strömung der Kirchenliedliteratur. An die prägende Rolle des Liedes in der Reformation anknüpfend, versuchte er der Singepraxis neue Impulse zu geben. Durch neue Liedschöpfungen brachte er eigene reformerische Anliegen zum Ausdruck und zeitigte bemerkenswerte Wirkungen in Dichtung und Musik. Produktivster Autor war zweifellos Graf Zinzendorf, der etwa 3000 Lieder dichtete. Auch Joachim Neander (»Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren«, EG 316) oder Gerhard Tersteegen (»Ich bete an die Macht der Liebe«) haben bis heute beliebte Kirchenlieder geschaffen.
Die wichtigste Liedersammlung war zweifellos das 1704 in Halle erschienene »Freylinghausensche Gesangbuch«, das ungefähr 1500 Lieder umfasste. Sein Herausgeber Johann Anastasius Freylinghausen war Theologe der pietistischen Halleschen Schule und Nachfolger von August Hermann Francke als Direktor der Franckeschen Stiftungen. Im Evangelischen Gesangbuch findet sich unter EG 356 das Lied »Es ist in keinem andern Heil, kein Name sonst gegeben«, zu dem er den Text der ersten Strophe geschrieben hat.
Mit seiner 2003 in der Evangelischen Verlagsanstalt veröffentlichten Edition »Lieder des Pietismus« hat Christian Bunners bisher nur in Spezialarchiven auffindbare Quellen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und damit zugleich verdeutlicht, dass der Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts auch eine Singebewegung gewesen ist. Das gilt auch für spätere Ausprägungen wie den Neu-Pietismus und die Gemeinschaftsbewegung, die Impulse der amerikanischen und englischen Heiligungsbewegung aufnahmen. So fanden sich 1892 in der ersten Auflage des deutschen Reichsliederbuches (3 Millionen!) 30 Prozent aus dem Englischen übersetzte Texte! Diese sogenannten »Heilslieder« verfügten meist über einen wiederkehrenden Refrain und wurden mit In­brunst auf den neu entstandenen Großevangelisationen gesungen.

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Online-Redaktion

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