Weihnachten kam Nathanda

Zuhören und helfen: In der Zentrale des Kinder-Notrufs nehmen Ehrenamtliche die Hilferufe der Kinder aus dem ganzen Land auf und organisieren schnell Hilfe. | Foto: Paul-Josef Raue
  • Zuhören und helfen: In der Zentrale des Kinder-Notrufs nehmen Ehrenamtliche die Hilferufe der Kinder aus dem ganzen Land auf und organisieren schnell Hilfe.
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Simbabwe: Einst die Korn­kammer Afrikas, gilt das Land nach 30 Jahren Diktatur unter Robert Mugabe als eines der ärmsten Länder der Welt. Gibt es Hoffnung unter dem neuen Präsidenten Emmerson Mnangagwa?

Von Paul-Josef Raue

In den Dörfern, Familien und Schulen herrscht Gewalt – vor allem gegen Mädchen und Frauen. So ist die Telefonnummer 116 ein Zeichen für Hilfe und Hoffnung: Der Kinder-Notruf, den alle in Simbabwe kennen und den fast eine halbe Million Betroffene im Jahr nutzen.
Weihnachten sahen sie Nathanda zum ersten Mal, ein Mädchen, gerade mal 15 Jahre jung, ein einziges Bündel Angst. Drei Jahre lang hatten sie nur ihre Stimme gehört, manchmal zwanzig Mal am Tag. 116 hatte sie gewählt, diese Telefonnummer war Teil ihres Lebens geworden.
Wer 116 wählt, eine kostenlose Nummer, landet in einer Villa von Harare, in der einst ein britischer Offizier gewohnt haben mag. Da hieß Harare noch Salisbury, und Simbabwe war Teil der britischen Kolonie Rhodesien im Süden Afrikas. Harare ist heute die Hauptstadt von Simbabwe, des eigentlich reichen Landes, in dem viele Menschen arm sind. »116 – a cry for help«, ein Schrei um Hilfe – ist der Slogan des Kinder-Notrufs Childline, bei dem landesweit 250 Mitarbeiter ehrenamtlich arbeiten und zuerst einmal zuhören – wie bei Nathanda. Sie rief dort jahrelang an. Es war einer dieser erstickten Schreie von Menschen, die auf Hilfe hoffen, aber nicht den Mut finden, zu erzählen.

Drei Jahre nahm sie Anlauf

Drei Jahre lang versuchte sie es. Die Mitarbeiter, die sie über ihre Kopfhörer hörten, lockten sie, ermunterten sie: Was willst du, Nathanda? Was bedrückt dich? Wie können wir dir helfen? Dürfen wir dich besuchen? Nein. Nathanda weinte nur – manchmal zwanzig Mal am Tag.
Eines Tages öffneten sich plötzlich die Tore der Erinnerung. Nathanda rief an und erzählte von ihrem Onkel, der sie immer wieder vergewaltigt, schon seit Jahren, der sie schon vergewaltigt hatte, da war sie gerade mal zehn. Es ist die Geschichte von Zehntausenden in Simbawe, diesem Land der verlorenen Kinder.
Weihnachten kam sie endlich, hatte ihr schönes rotes Kleid angezogen, Weihnachten traute sich Nathanda zu der Villa im grünen Viertel von Harare. Sie schellte am Tor – und lief gleich wieder weg. Sie beobachtete das Haus aus sicherer Distanz, schellte wieder und lief davon. Die Mitarbeiter gingen auf die Straße, aber sahen nur das rote Kleid, das aus dem Versteck leuchtete.
Nach dem vierten Schellen kam sie ins Haus, erzählte die komplette Geschichte ihres Leidens; erzählte, dass sie weder aus noch ein weiß, seitdem ihr Onkel sie auch zur Prostitution zwinge. Die Mitarbeiter von Childline hören nicht nur zu, sie helfen. Sie führten auch Nathanda ins Leben zurück: Heute ist sie verheiratet und Mutter von Zwillingen. Sie hat die Dämonen der Vergangenheit verscheucht. Ihr Onkel ist zu 18 Jahren Zuchthaus verurteilt worden.
»Wir wissen, was im Land wirklich los ist«, sagt Maureen Kambarami von Childline, »wir sagen es auch öffentlich. Die Regierung nutzt unsere Statistiken.« Sie zeigt auf Säulen und Torten und Linien, die ausgedruckt an der Wand hängen. Statistiken der Schande.
Fast 40 000 Anrufe allein im Dezember: Zwei von drei Anrufern berichten von Gewalt, am meisten von sexueller Gewalt, vor allem gegen Mädchen, aber auch von Prügel und Folter – selbst von versuchtem Mord wie am 3. Juni: Um 11.30 Uhr kam der Anruf aus einer abgelegenen Siedlung nahe Triangel, einem Dorf im Süden, wo es heiß ist und trocken: Ein Nachbar sieht, wie ein Mann mit einer Axt auf Peter, seinen Neffen, schlägt, wie von Sinnen. Der 14-jährige Peter blutet heftig, schreit. Ein Bein liegt, abgetrennt, auf dem Boden.
Der Notruf-Mitarbeiter alarmiert sofort die Ambulanz, die nur langsam auf den schlechten Straßen vorankommt. Was sie dann sieht, überfordert alle. »Was soll ich nur tun?«, ruft einer, fotografiert mit seinem Smartphone den blutüberströmten Kopf und das Bein und sendet das Bild zu einem Hospital in Harare. Er bekommt Rat übers Telefon, und der Krankenhaus-Chirurg sagt nachher: »Das Smartphone hat dem Jungen das Leben gerettet. So konnten wir der Ambulanz zeigen, wie sie mit dem Jungen umgehen sollen.« In der Nacht kommt Peter mit dem Flugzeug ins Hospital nach Harare. Nur langsam heilen die Wunden und Peter erzählt, er wolle gerne Lehrer werden.
Was war geschehen? Die Eltern, arme Leute, hatten Peter zu seinem Onkel geschickt, wo er als Hirte arbeiten konnte. Er spielt gerade draußen und hört, wie der Onkel mit seiner Cousine schimpft, die ihm einen Tee aufbrühen soll. Die Cousine läuft aus dem Haus, der Onkel verfolgt sie, sieht Peter und greift zur Axt.
Gewalt-Exzesse gegen Kinder und Frauen sind ein Tabu in Simbabwe: Man schaut weg, man spricht nicht über das, was in den Hütten nebenan passiert, man schmiedet ein Nachbarschafts-Schweige-Kartell, um den Zusammenhalt der Familie und des Dorfes nicht zu gefährden. Peters Onkel haben dann aber die Nachbarn aufgespürt und der Polizei übergeben und erzählt, dass er zuvor schon zwei andere Kinder misshandelt hatte.

Ein Gericht für die Kinder

»Es geht um Gerechtigkeit«, sagt Cletus Mhenhe, Richter in Mutasa. Er kennt die versteckte Gewalt in seinem Distrikt und will die Gesellschaft verändern, in der die Clans die Macht besitzen, in der Vetternwirtschaft herrscht und falsch verstandene Solidarität. Zivilcourage will der Richter fördern und die Angst besiegen: Die Täter sollen vor Gericht erscheinen, sie sollen bestraft werden und nicht weiter misshandeln und vergewaltigen.
Das Gesetz ist auf Seiten der Kinder, die Strafen für die Täter sind hoch. »Doch viele Fälle kommen erst gar nicht zu mir«, ahnt der Richter Mhenhe. Von seinem Gerichtsgebäude, auf einem Hügel gelegen, schauen Gerechte wie Ungerechte in eine idyllische fruchtbare Gebirgslandschaft mit Seen und Wäldern. Der Richter hatte einen Traum: Ein neues Gericht in der Provinz, damit Täter, Opfer und Zeugen – oft zusammen – nicht mehr den einzigen Bus zum Gericht in der Distrikthauptstadt nehmen müssen.
Sein Traum wird wahr, und er ist zufrieden – nicht, weil er eine eigene Dusche hat und eine eigene moderne Toilette, sondern wegen eines kleinen Zimmers mit Spielsachen neben seinem Richtertisch. Es ist durch eine Glasscheibe abgetrennt, dahinter spielen die Kinder, die gedemütigt wurden, misshandelt, gefoltert, vergewaltigt, meist von Verwandten und Freunden. Hier erzählen sie dem Richter während der Verhandlung, was sie erlebt haben – ohne ihren Vergewaltiger zu sehen, zu hören, ohne seine Nähe
zu spüren.
»Das Gericht nahe dem Tatort ist so sinnvoll«, sagt Richter Mhenhe, »die Verhandlungen können schnell nach der Tat stattfinden, denn Kinder vergessen schnell. Die Nachbarn, das Dorf, die Gemeinschaft haben kurze Wege und schauen der Verhandlung zu: Das stärkt sie, das ermuntert sie, nicht mehr zu allem zu schweigen. Es geht um Gerechtigkeit.« So viele Fälle wie in den vergangenen zwei Jahren hat er noch nie verhandelt.

Autor:

Adrienne Uebbing

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