Sterbebegleitung
für Institutionen ...

I. Im Stil von Thomas Bernhard
Die Sterbebegleiterin, diese Frau, diese außerordentliche Frau, von der man gar nicht sagen darf, dass sie eine Frau ist, weil sie ja eigentlich etwas ganz anderes ist, weil sie eigentlich schon gar nicht mehr zu dieser Welt gehört, mit ihrem Haar, diesem unverschämt schwarzen, diesem glänzenden, diesem langen, mit ihrem Gesicht, das asiatisch wirkt, immer asiatisch wirkt, als käme es von einer ganz anderen Seite der Welt, von einer Seite, die uns fremd und gleichzeitig verlockend ist, mit ihrer Perlenkette, die viel zu unscheinbar ist, als dass sie unscheinbar wäre, und mit dieser Tätowierung, die man nicht sieht und doch sieht, die ein Kreuz sein könnte oder ein Rad, niemand weiß das, und niemand darf hinsehen, denn wer hinsieht, hat schon verloren, weil sie eben diese Schönheit hat, diese Schönheit, die gefährlich ist, die tödlich ist, die alles in sich hineinsaugt, was ihr begegnet.
Diese Sterbebegleiterin, diese Friedgard, die keine einzelnen Menschen begleitet, das wäre zu lächerlich, das wäre zu klein für sie, nein, sie begleitet Institutionen, ganze Institutionen, wie jetzt die protestantische Kirche in Mitteldeutschland, und das ist, wie wir wissen, ein Unterfangen, das schon seit Jahrhunderten andauert, seit der Reformation, seit diesem katastrophalen Augenblick, in dem man meinte, man müsse eine Kirche reformieren, und seitdem ist sie dabei, diese Sterbebegleiterin, seit Jahrhunderten legt sie ihre kühle Hand auf den Leib dieser Kirche, die keucht, die hustet, die sich windet, diese Kirche, die immer sterben will, aber nie stirbt, diese Kirche, die immer lebt und doch nicht lebt.
Und sie kommt früh am Morgen, diese Sterbebegleiterin, sie kommt früh, und sie legt die Hand auf, und die Kirche atmet schwer, und sie geht wieder, und mittags kommt sie wieder, und sie singt, sie singt den 23. Psalm, aber nicht so, wie ihn irgendwer singen würde, nein, sie singt ihn in einer Tonalität, die niemand kennt, die pentatonisch ist, die fremd ist, die aus dem Osten kommt, und man versteht, dass sie aus dem Osten kommt, denn von dort kommt alles, was uns wirklich fremd ist und deshalb wirklich bedeutend ist.
Und die Kirche schläft ein, schläft ein mit einer Mehlsuppe im Magen, dieser lächerlichen Mehlsuppe, dieser armseligen Mahlzeit, die alles ausdrückt, was an dieser Kirche armselig ist, und am Abend kommt sie wieder, nicht die Suppe, sondern die Sterbebegleiterin, und sie legt ihre Hand mit dem blitzenden Ring, den man vorher nicht gesehen hat, auf die Stirn dieser Kirche und sagt: Alles wird gut. Diese Worte, die wie ein Segensspruch sind, die aber nichts segnen, sondern nur bestätigen, dass es nichts mehr zu segnen gibt.
Und die Kirche schläft, schläft und wacht wieder auf, wacht immer wieder auf, und es ist lächerlich, es ist absurd, dass sie immer wieder aufwacht, obwohl sie längst sterben sollte. Aber sie wacht auf, und sie stirbt nicht, und die Sterbebegleiterin ist da, sie ist immer da, und das Schlimmste wäre, wenn sie einmal nicht mehr da wäre, dann wäre es unerträglich, dann wäre es nicht mehr auszuhalten.

II. Im Stil von Peter Rosegger
Eine Frau von seltener Schönheit, wie man sie in unseren Tälern nicht oft antrifft, ging still ihren Weg zwischen den Gemäuern und Säulen der alten Kirche. Ihr Haar war schwarz wie die Nächte im Gebirge, und ihr Gesicht hatte einen Zug aus fernem Osten, als hätte der Wind von jenseits der Steppen ihr Bild geformt. Um ihren Hals lag eine feine Perlenkette, schlicht und bescheiden, und doch glänzte sie wie das Tau am Morgen. Auf ihrem Arm aber, verborgen und doch sichtbar, lag ein Zeichen: ein Kreuz, das auch ein Rad sein mochte. Wer es anschaute, senkte schnell wieder die Augen, denn die Würde dieser Frau erlaubte keinen zudringlichen Blick.
Diese Frau war eine Sterbebegleiterin, aber nicht für einzelne Menschen, nein, für ganze Häuser, für ganze Gemeinschaften. Nun war ihr aufgetragen, der evangelischen Kirche in Mitteldeutschland beizustehen, die schon lange, wie ein alter Baum, an dem die Blätter welk werden, ihrem Ziel entgegenging. Seit der Reformation, so schien es, war diese Begleitung im Gange, ein langsames Scheiden, das Jahrzehnte um Jahrzehnte währt.
Am frühen Morgen trat sie ein, legte ihre kühle Hand auf das Herz der Kirche, das schwer und unruhig schlug, und die Kirche fand Ruhe. Zur Mittagszeit kam sie wieder, und sie sang den 23. Psalm, aber nicht in unserer Weise, sondern in einem Ton, der fremd und doch heilig klang, wie ein Lied aus weiter Ferne, das doch die Seele verstand. Die Kirche hörte und schloss die Augen, und in ihrer Schwäche nahm sie eine einfache Suppe zu sich, wie es der Armen Kost ist.
Und am Abend, da das Magnificat erklang, stand die Begleiterin wieder bei ihr. „Friedgard“ wollen wir sie nennen, denn Friede war in ihrem Schritt, und Friede lag in ihrer Stimme. Ein Ring blitzte an ihrer Hand, und sie sprach schlicht: „Alles wird gut.“ Da schlief die Kirche ein, in einer Ruhe, die nicht das Ende, sondern die Verheißung eines neuen Morgens war.
Und so war sie da, Tag um Tag, still und treu. Wer sie sah, wusste nicht, woher sie kam, und niemand fragte nach Lohn. Denn es genügte, dass sie kam. Und hätte sie nicht mehr kommen sollen, dann wäre es schlimm geworden, sehr schlimm. Doch solange ihr Schritt durch die stillen Gänge hallte, konnte die Kirche ruhen, gleich einem alten Menschen, dem die Hand einer Tochter das Herz stiller macht.

III. Im Stil von Stanisław Lem
Man könnte sagen, die Sterbebegleiterin sei ein Mensch, doch diese Aussage wäre bereits eine Verkürzung. Sie gleicht vielmehr einem Grenzphänomen zwischen Biologie und Metaphysik. Ihr Körper – ja, er besitzt die typischen Attribute weiblicher Schönheit: das Haar, pechschwarz, von einer Reflexivität wie obsidianische Oberflächen; die Gesichtszüge, mit jenem leichten asiatischen Einschlag, der an genetische Stränge erinnert, die aus fernöstlichen Populationen stammen; die Perlenkette, minimalistisch, fast unsichtbar, doch gerade deshalb aufgeladen mit Bedeutung. Und schließlich dieses Zeichen auf ihrem Oberarm, das sich hartnäckig jeder eindeutigen Semantik entzieht: Kreuz oder Rad? Ein Symbol der Transzendenz oder ein technisches Piktogramm? Die Beobachter verfallen unweigerlich in ein Schweigen, als hätten sie begriffen, dass hier kein Blick, sondern eine Hypothese unzulässig ist.

Sie begleitet nicht Individuen, sondern Systeme. Strukturen. Ganze Institutionen. Ihre Aufgabe ist nicht, eine Hand zu halten oder den Puls zu fühlen, sondern die langsame Erosion kollektiver Identitäten zu modulieren. Die protestantische Kirche Mitteldeutschlands ist nur ein Fall unter vielen – ein besonders komplexer allerdings, da ihr Sterben nicht linear verläuft, sondern oszillierend, in Phasen der scheinbaren Genesung und des rapiden Verfalls. Dieser Prozess begann, wie die Chronisten meinen, im 16. Jahrhundert. Man könnte auch sagen: seit der Initialzündung der Reformation läuft ein Algorithmus, dessen Endzustand das Verschwinden der Institution ist.

Die Begleiterin, von uns provisorisch „Friedgard“ genannt, erfüllt eine Funktion, die man in kybernetischen Kategorien beschreiben könnte: Sie ist eine Stabilisierungseinheit, ein Dämpfer. Morgens legt sie ihre kühle Hand auf das System – biochemisch gesprochen reduziert sie die thermodynamischen Fluktuationen, psychologisch gesprochen lindert sie die Angst. Mittags erscheint sie wieder, um eine Tonfolge auszusenden – den 23. Psalm. Doch dieser Psalm ist in ihrer Ausführung ein pentatonisches Muster, eine mathematische Schwingung, die zugleich uralt und außerirdisch wirkt, als sei sie weniger Gebet als Resonanz. Die Kirche empfängt diese Frequenz, fällt in einen Zustand der Sedierung, konsumiert – ganz im Sinne einer symbolischen Nahrungsaufnahme – eine fade Mehlsuppe, und driftet in einen Zustand reduzierter Bewusstseinsleistung.

Am Abend kehrt Friedgard zurück, und diesmal fügt sich dem Ritual ein neues Detail hinzu: ein Ring, dessen Oberfläche aufblitzt, als ob darin Daten gespeichert wären. Sie legt ihre Hand auf den Schädel des Systems – hier könnte man von einer neuronalen Schnittstelle sprechen – und spricht die Worte: „Alles wird gut.“ Semantisch trivial, funktional entscheidend. Denn diese Formel wirkt wie ein Reset, ein Befehl, der das System in eine Art Schlafmodus versetzt, aus dem es dennoch am nächsten Morgen zurückkehrt.

Die Frage, woher sie die Zeit nimmt, bleibt unbeantwortet. Vielleicht ist sie eine Projektion des Systems selbst, eine Art psychosomatischer Avatar. Vielleicht ist sie eine Entität jenseits unserer Ontologie, eine Botin aus einer Topologie, in der Institutionen ebenso sterblich sind wie Menschen. Sicher ist nur: Ohne ihre Intervention würde der Prozess nicht erträglich ablaufen. Ihre Präsenz ist ein Interface zwischen dem Sterben und dem Weiterbestehen, zwischen der Auflösung und der Simulation von Kontinuität.

Und so geht es weiter, Tag für Tag. Die Kirche stirbt nicht, sie lebt nicht. Sie oszilliert im Zwischenraum. Und die Sterbebegleiterin, mit ihrer Schönheit, ihrem Gesang, ihrem fremden Symbol am Arm, sorgt dafür, dass dieser Zwischenraum nicht zusammenbricht.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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