die Reue des Herrn
VON SINN UND UNSINN

Peter Sloterdijk zeichnete in seinem lesenswerten und hiermit ausdrücklich empfohlenen Essay DIE REUE DES PROMETHEUS die lange Geschichte der Feuerbeherrschung als Tragödie der Menschheit nach. Ausgehend vom Mythos des Prometheus zeigt er, wie die Gabe des Feuers – Sinnbild aller technischen Selbstermächtigung – sich im Verlauf der Moderne in eine unkontrollierbare Pyro-Technik verwandelt hat. Die Menschen, ursprünglich dankbar für das Licht, wurden zu Brandstiftern ihrer eigenen Welt: Industrialisierung, Explosivkraft, Energiehunger, planetarische Überhitzung. Prometheus steht am Ende beschämt vor der Einsicht, dass seine Gabe, statt zu befreien, ein Zeitalter entfesselt hat, das den Bestand der Welt selbst gefährdet. Sloterdijk liest diese Reue als Gleichnis der Moderne: Der Fortschritt ist nicht Sieg, sondern Selbstüberforderung.

Man könnte den Grundgedanken des schmalen Büchleins aus dem Jahr 2023 - fast nahtlos auf jene alte Überlieferung übertragen, nach der Gott den aus Eden Vertriebenen Ureltern Adam und Eva die Zahlen als Buchstaben mitgab: ein letzter Vorrat an Sinn, Ordnung, Struktur. Ein Trostgeschenk. Eine feine geistige Glut, die das Dunkel der Welt erhellen sollte.

Doch wie beim Feuer beginnt auch hier das Unheil nicht mit der Gabe, sondern mit dem, was die Empfänger aus ihr machten. Denn die Zahlen-Buchstaben, als leise göttliche Spur gedacht, wurden unter der Hand der Menschen zu einem Werkzeug unvorstellbarer Selbstermächtigung. Lesen – ursprünglich eine asketische Kunst der inneren Sammlung – verwandelte sich im Lauf der Jahrtausende in eine inflationäre Fertigkeit, deren Beherrschung plötzlich jedem zuzutrauen schien, der die Augen halbwegs offenhalten konnte.

Die Gabe, die eigentlich Demut hätte verlangen müssen, blähte sich zu einem globalen Größenwahn auf: Man verwechselte die Fähigkeit, Zeichen zu dechiffrieren, mit dem Besitz von Weisheit; die Handhabung eines Alphabets mit der Teilnahme am göttlichen Sinn. So wie Prometheus, der sich bloßgestellt fühlt durch das, was die Menschen aus seinem Feuer gemacht haben, müßte sich auch der Schöpfer wundern über den Lärm, den die Menschheit aus diesen zarten Symbolen schlug.

Der ursprüngliche Gedanke war schlicht: Die Zeichen sollten ein Werkzeug der Erinnerung sein – kleine, geordnete Funken des Denkens, getragen von einem stillen Ernst. Doch mit der Zeit wurden sie zur Kohlegrube unserer Moderne: eine Masse von Worten, Formeln, Zahlen, Kommentaren, die pausenlos entzündet wurde. Millionen offene Feuerstellen, an denen Wissen verbrannt, Meinung verfeuert, Interpretation verkokelt wurde.

Und wie die pyrotechnisch befeuerten Menschen unendliche Mengen an Brennstoff ins Feuer werfen, so wirft die Gegenwart unendliche Mengen an Text ins Nichts: Posts, Kommentare, Artikel, Belehrungen – jedes Wort eine Funkenstreuung, jedes Zeichen eine weitere Rauchfahne. Die Welt verdichtet sich unter diesem Qualm der Selbstüberhebung. Man redet, weil man lesen kann; man hält sich für gebildet, weil man die Lettern erkennt; man verwechselt mechanisches Entschlüsseln mit geistiger Durchdringung.

Der himmlische Geber müßte sich – wie Prometheus – schämen. Nicht wegen der Gabe selbst, sondern wegen der Entfesselung, die sie ausgelöst hat: die ungeheure Selbstüberschätzung eines Menschengeschlechts, das den Schlüssel zur Schrift für den Schlüssel zur Erkenntnis hält. Aus dem alphabetischen Trostfeuer des Anfangs ist eine weltumspannende Feuersbrunst geworden, in der die eigentliche Bedeutung der Zeichen kaum mehr sichtbar ist.

Und so liegt die Ironie offen zutage: Das Geschenk, das den Menschen helfen sollte, die Welt zu verstehen, hat sie in die Illusion geführt, sie hätten sie längst verstanden. Die Wolken dieses Irrtums verdichten sich zunehmend – so sehr, dass sie den Bestand der geistigen Welt, wie frühere Generationen sie kannten, vollständig in Frage stellen.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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