Volk und Kaiser
… es gibt Tage …

Auch das gehört zu den merkwürdigen Ironien der Geschichte, dass ausgerechnet jener Monarch, der sein Reich sechs Jahrzehnte lang wie ein schweigsamer Uhrmacher in Gang hielt, an einem einzigen unscheinbaren Tag still - verschwand.

Franz Joseph Karl von Österreich, aus dem Haus Habsburg-Lothringen, war vom 2. Dezember 1848 bis zu seinem Tod Kaiser von Österreich, Apostolischer König von Ungarn und König von Böhmen. Mit einer Regierungszeit von nahezu 68 Jahren übertraf er jeden anderen Herrscher seiner Dynastie und er gehört damit zu den am längsten amtierenden Staatsoberhäuptern des 19. und 20. Jahrhunderts weltweit.Franz Joseph erscheint in der Rückschau weniger als Individuum denn als Epoche: ein lebendes Emblem der Habsburgischen Ordnung, deren feine Risse zwar schon während seiner Regentschaft sichtbar wurden; aber sein Arbeitstisch in Schönbrunn stand noch lange da wie ein Altar der Pflichterfüllung.

Die Religiosität dieses Kaisers war weder Pose noch höfischer Zierrat. Sie gehörte zu seiner Existenz wie die tägliche Uniform. Der Kaiser lebte in einem stillen, strengen Katholizismus, der nicht sentimental erschüttert, sondern den Tag ordnet: die morgendliche Messe, das Gebet, das Bewusstsein eines unsichtbaren Gerichts. Man erkennt darin die erhabene Strenge einer Welt, in der Herrschaft nicht aus politischem Willen, sondern aus metaphysischer Teilhabe erwächst. Und wir nehmen jenes kaum hörbare Surren wahr, das durch eine Gesellschaft geht, die sich nur am Leben hielt, insofern sie religiös gespannt blieb – eine Spannung, die in Franz Josephs Leben ungebrochen anhielt. 

Doch dieser Kaiser, der sich vor allem als Arbeiter verstand, trug ein inneres Kreuz. Die Tragödie von Mayerling steht im Zentrum: Kronprinz Rudolf, der empfindsame, intellektuelle Sohn, zerbrach an den starren Formen einer Epoche, deren lebendiger Inbegriff sein Vater war. Der Schuss in Mayerling war nicht nur der Tod eines Erben; er war ein Einschnitt in die innere Tektonik des Reiches. Franz Joseph verstummte darüber. 

Dann die Ermordung der Sisi in Genf. Sie, die schon zu Lebzeiten den Mythos einer entrückten Kaiserin trug, floh vor den Ritualen des Hofes, vor der Last einer Etikette, die ihr Mann mit stoischer Selbstverständlichkeit trug. Ihr Tod riss einen zweiten Schatten in dieses Leben, das nie für sichtbare persönliche Regung vorgesehen war. Franz Joseph, der Kaiser mit dem eisenharten Pflichtgehäuse, trat in jenem Moment ungewollt als Mensch hervor: ein Mann, der die Welt nicht ändern konnte, die ihn formte.

Die dritte Katastrophe war Sarajevo. Franz Ferdinand, der Erbe, der das Reich hätte erneuern sollen, fiel dem serbischen Attentat zum Opfer. Der alte Kaiser, schon umstellt von den Gräbern seiner Familie, erlebte in den Meucheltat den Zusammenbruch dessen, was er bewahrt hatte. Die katholische, von Sakrament und Ritual getragene Ordnung traf endgültig auf eine Moderne, die mit Sprengsätzen, Nationalismen und Entzauberung arbeitete.

An dieser Stelle tritt Joseph Roth hervor – der zartfühlende Chronist des habsburgischen Untergangs. In seinen beiden unüberholbaren Büchern Radetzkymarsch und Kapuzinergruft lässt er die letzten Sonnenuntergänge dieser alten Welt brennen, als lägen sie in den Vitrinen von Schönbrunn zur Feier als Reliquien ausgestellt. Roths Kaiser ist weniger Herrscher als sakrales Zeichen, ein „hoher Alter Herr“, dessen bloße Anwesenheit das Reich zusammenhielt. Und Roth lässt immer wieder den Satz erklingen, der in seiner Schwere den gesamten Untergang begleitet:

„Der Tod kreuzte schon seine knorrigen Hände über den Kelchen, aus denen wir tranken.“

Dieser Satz könnte als geheime Überschrift über Franz Josephs ganzem Leben stehen. Er meint nicht nur die Offizierskelche, nicht die bürgerlichen Bankette – er meint das sakrale Gefäß des Reiches selbst. Über den Messen, den Festen, den Akten, den Paraden lagen bereits die knorrigen Hände des Todes. Roth begriff die Wahrheit: Die habsburgische Welt starb nicht plötzlich. Sie starb langsam, würdevoll, mit einem merkwürdigen Glanz – als würde ein überirdisches Licht das Verlöschen begleiten.

Franz Josephs Tod am 21. November 1916 war daher kein dramatischer Sturz, sondern ein leises Entweichen. Ein Kaiser, der sich stets als Diener verstand, trat ab. Und mit ihm verließ eine Welt die Bühne, die sich nicht modernisieren wollte, sondern im Ritual, in der katholisch-verspielten Strenge ihres Selbstverständnisses lebte. Der alte Kaiser, in Schönbrunns Winterlicht sitzend, das Gebetsbuch in der Hand, während über den Kelchen seines Reiches die knorrigen Hände des Todes sich ruhend falten. Und dennoch funkelt im Rückblick eine seltsame Schönheit: jene Mischung aus Pflicht, Glaube, Tragik und stillem Glanz, welche die letzte monarchische Epoche des fast schon zu südlichen Europas ausmacht.

Autor:

Matthias Schollmeyer

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

26 folgen diesem Profil

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

Video einbetten

Es können nur einzelne Videos der jeweiligen Plattformen eingebunden werden, nicht jedoch Playlists, Streams oder Übersichtsseiten.

Abbrechen

Karte einbetten

Abbrechen

Social-Media Link einfügen

Es können nur einzelne Beiträge der jeweiligen Plattformen eingebunden werden, nicht jedoch Übersichtsseiten.

Abbrechen

Code einbetten

Funktionalität des eingebetteten Codes ohne Gewähr. Bitte Einbettungen für Video, Social, Link und Maps mit dem vom System vorgesehenen Einbettungsfuntkionen vornehmen.
Abbrechen

Beitrag oder Bildergalerie einbetten

Abbrechen

Schnappschuss einbetten

Abbrechen

Veranstaltung oder Bildergalerie einbetten

Abbrechen

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.