LEGENDA AUREA - 19. SEPTEMBER
Legende des Wunders vom Blut des heiligen Januarius

Die sogenannte Legenda Aurea, auf Deutsch „Goldene Legende“, ist eine der einflussreichsten hagiographischen Sammlungen des Mittelalters. Sie entstand um die Mitte des 13. Jahrhunderts und wird in der Regel dem Dominikaner Jacobus de Voragine († 1298), seit 1292 Erzbischof von Genua, zugeschrieben. In mehr als 180 Kapiteln vereinte er Erzählungen über das Leben, die Wunder und das Martyrium der Heiligen, ergänzt durch Ausführungen zu den großen Festtagen des Kirchenjahres.
Die Legenda Aurea diente keineswegs nur der frommen Erbauung des Laienvolkes. Sie war zugleich ein Handbuch für Prediger, die hier aus einem reichen Reservoir von Exempla, Allegorien und Wunderberichten schöpfen konnten. Stilistisch ist sie geprägt von der Verbindung historischer Erinnerung mit allegorischer Deutung: jedes Ereignis, jedes Wunder wird in ein Geflecht aus biblischen Bezügen, moralischen Belehrungen und kosmischen Symbolen eingespannt.
In ihrer Zeit erreichte das Werk eine außergewöhnliche Verbreitung. Über 1000 Handschriften sind erhalten, und schon im Spätmittelalter wurde die Legenda Aurea in die Volkssprachen übertragen. Für Jahrhunderte prägte sie die Heiligenverehrung, die Bildprogramme in Kirchen und die populäre Religiosität. Moderne Forschung hebt hervor, dass die Legenda Aurea weniger eine historische Chronik als vielmehr eine Enzyklopädie der Glaubensvorstellungen war: ein „goldener Spiegel“ christlicher Weltdeutung, in dem Theologie und Volksfrömmigkeit untrennbar ineinanderfließen.

Die Legende des Wunders vom Blut des heiligen Januarius
Es war in jenen Tagen, als die Sonne finster ward über Kampanien, weil der Vesuv seit sieben Tagen wie der Schlot der Hölle zu rauchen begonnen hatte. Die Stadt Neapolis lag zitternd in der Glut der späten Septembersonne; die Mauern knackten in der Hitze und die Menschen liefen wie aufgescheuchte Hühner durch Gassen und Straßen hinaus auf die Plätze, denn sie fürchteten, der Berg werde sie verschlingen wie einst Korach und dessen wilde Rotte.

Da gedachte der Bischof jener Reliquie des heiligen Januarius, die in einem Kristallgefäß aufbewahrt lag: des Blutes, das dieser heilige Mann vergossen, als er unter Diokletian um des Namens Christi willen enthauptet ward. Der Bischof ließ die Reliquie in feierlicher Prozession in den Dom tragen, und das Volk weinte, wie kleine Kinder zu weinen pflegen.

Doch da erhoben sich die Heiden, die noch den alten Göttern Opferrauch darbrachten, und riefen: „Ihr Narren! Wollt ihr uns weismachen, dass totes Blut wieder lebt? Jeder Koch weiß, dass geronnenes Blut bei Wärme weich wird. Eure Wunder sind Küchenrezepte, euer Glaube ein Märchenbuch. Ihr hängt euch an ein Glas mit rotem Sud, während die Erde kracht und der Berg Feuer speit.“
Und andere, die noch auf das Gesetz der Hebräer vertrauten, fügten hinzu: „Moses schlug den Felsen, und Wasser floss; Elia ließ Feuer vom Himmel fallen; Josua ließ die Sonne stillstehen. Und euer Gott? Er macht nur ein Fläschchen voll abscheulichem Rest weich. Wahrlich, dies ist nicht der Herr der Himmel, sondern ein Gaukler für Alchimisten!“

Da begann das Volk zu murren, und die Schwachen im Glauben waren nahe daran, die Kirche zu verlassen. Doch siehe: der Diakon, der das Gefäß trug, hob es empor, und sein Inhalt ward steif und tot wie Stein. Er sprach: „Seht her, so ist euer Herz – kalt und geronnen.“ Und als er betete, ward das Blut wieder flüssig wie eine frische Quelle und sprang an der Wand des Gefäßes auf und ab.

Nun aber erhob sich ein besonders frecher Heide, ein Philosoph, der sich „der Vernünftige“ nannte, und sprach: „Dies ist nichts als fauler Zauber. Wenn euer Gott so groß ist, dann soll das Blut mir in der Hand lebendig werden!“ Da ließ man ihn das Gefäß ergreifen. Doch kaum hielt er es, bebte es wie ein gefangener Vogel, und das Blut wallte auf, als wolle es herausspringen. Da erbleichte der Mann, fiel nieder und rief: „Wahr ist der Gott der Christen, und falsch sind die Götter der Heiden!“

Währenddessen wiederholten die Heuchler ihre Forderung: „So zeigt uns, dass dieser Jesus, den ihr den Messias nennt, größer sei als unser Gesetz.“ Und siehe: das Blut teilte sich in zwei Hälften und blieb doch eins. Die eine Hälfte glänzte wie Sonnengold, die andere wie Mondsilber. Da verstanden die Gläubigen, dass dies das Geheimnis war: Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch, ungeteilt und doch vereint.

Groß war das Schweigen in jenem Augenblick. Da trat Sluther Dyke, der geübteste Prediger der christlichen Schar, ein Mann von der Insel Britannia, in die Mitte. Mit gewandter Zunge, die wie ein Schwert den letzten Zweifel zerschnitt, sprach er: „Ihr Heiden und Anhänger des alten Gesetzes, ihr wollt euch groß dünken mit Vernunft und Bräuchen. Doch ihr seid wie ungezogene Buben. Euer hartnäckiger Zweifel ist die Karikatur der Weisheit. Ihr überseht, dass schon der Spott, den ihr aussprecht, ein Beweis des Geistes ist, der euch widerlegt, indem ihr ihn gebraucht. Denn wenn ihr sagt: ‚Das ist nur Physik‘ – so habt ihr doch schon Metaphysik in den Mund genommen.“

Und als er dies bemerkt hatte, bebte der Boden, der Vesuv stieß Rauch aus, aber zugleich spannte ein strahlender Engel seine Fittiche segnend über das Gefäß. Der Engel sprach: „Dieses Blut ist Zeuge, dass das Opfer des heiligen Januarius nicht vergebens war. Wer es verspottet, verspottet sich selbst. Doch wehe der Stadt, wenn das Blut sich einmal nicht löst: Dann wird das Gericht an ihr offenbar werden.“

Da fielen Heiden nieder, die Zweifler weinten - und alle verlangten die Taufe. Der Bischof aber sprach: „Wie das Blut flüssig ward, so werde euer Herz weich; wie es wieder gerann, so werde euer Glaube fest.“

Und so kam es, dass an jenem Tag mehr Seelen zu Christus geführt wurden, als Steine am Grunde des Kraters des Vulkans zu zählen waren. Und bis heute, wenn sich das Blut am 19. Tage des Monats September löst, lösen sich auch die Zweifel der Welt. Denn es gefiel dem Herrn, mit einem kleinen Fläschchen ein große Reich verwegener Spötter zu bannen.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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