Raus in die Welt der Buchstaben

Lesen lernen: Marion Karakelle kam vor fünf Jahren zum Verein »Lesen und Schreiben«. | Foto: Dagmar Gester

Analphabetismus: An dieses Problem erinnert der Welt­alphabetisierungstag am
8. September. Rund 7,5 Millionen Menschen in Deutschland sind Analphabeten.

Von Dagmar Gester

Für ihre ältere Tochter sei es schwer gewesen, meint Marion Karakelle, denn »ich konnte ja nichts alleine, ich konnte noch nicht einmal meinen Namen schreiben«. Die zweifache Mutter ist jetzt 44 Jahre alt und kam vor fünf Jahren zum Verein »Lesen und Schreiben« in Berlin-Neukölln, Deutschlands ältester Bildungseinrichtung für funktionale Analphabeten.
Mit »funktional« wird die Unfähigkeit bezeichnet, die Schrift im Alltag so zu gebrauchen, wie es in unserer Gesellschaft als selbstverständlich angesehen wird. Das gilt für etwa 14 Prozent der erwerbsfähigen Deutschen, wie eine Studie der Universität Hamburg im Jahr 2011 gezeigt hat.
Obgleich eine große Gruppe und in allen Schichten vertreten, werden diese Menschen nicht wahrgenommen. Sie verstecken sich, wie auch Marion Karakelle es lange getan hat. Sie lebte in ihrer eigenen kleinen Welt. Die bestand aus einem Supermarkt, dem Kindergarten, der Wohnung ihrer Mutter und ihrem Zuhause. Es gab keine Freunde und keine Freizeitaktivitäten, denn sie hat jeden menschlichen Kontakt vermieden, der sie hätte in eine unvorhergesehene Situation führen können, die womöglich hätte peinlich werden können.
In ihrem Supermarkt hat Marion Karakelle immer ein und dieselbe Marke gekauft, war diese nicht verfügbar, hat sie das Produkt gar nicht mehr gekauft. Sie hat sich die Gänge eingeprägt und wo welche Waren standen. Gab es in ihrem Supermarkt wieder einmal eine Umräumaktion, war das für sie »der Hölle Pein«. Karakelle wird lebhaft und erzählt, dass das für sie »fast wie ein Todesurteil war«. Dass sie Panik bekommen habe, denn zu fragen sei ihr nicht möglich gewesen. »Für Normale«, sagt sie, »ist das kein Problem, aber für Unsereine schon. Dann sagen sie, steht doch da, Sie stehen doch direkt davor, haben Sie das nicht gesehen? Das passiert jedem, aber wir denken, weil wir von der Außenwelt so abgeschnitten sind, wir seien die Einzigen, denen das passiert.«
Deshalb geht es in den Kursen von »Lesen und Schreiben« auch um viel mehr als um den richtigen Gebrauch der Sprache. Es geht um eine Grundbildung, die befähigt, am Leben selbstbestimmt teilzunehmen. Oder wie Leiterin Urda Thiessen sagt: »Es geht nicht darum, ob die Teilnehmer ein, zwei, zehn oder hundert Wörter richtig schreiben können, sondern um einen anderen Umgang damit. Einen anderen Umgang mit sich selbst, mehr Mut zu haben, sich mehr zuzutrauen und auch einen anderen Umgang mit Fehlern.«
Unsere Gesellschaft bemüht sich um Inklusion, wir diskutieren seit Jahren über Integration, doch die Gruppe der Analphabeten findet kaum Unterstützung. Im Gegenteil, wer zugibt, nicht richtig lesen und schreiben zu können, erfährt Diskriminierung. Das musste auch Marion Karakelle erfahren, denn als sie im Sozialamt um Hilfe gefragt hat, wurde ihr entgegnet, dass man so etwas wie sie kastrieren müsse, denn das dürfe keine Kinder kriegen. Karakelle empört das noch heute. Immerhin ist die Mitarbeiterin versetzt worden, nachdem sich Karakelles Mutter beschwert hatte.
Ihre Mutter war auch die Erste, die Bescheid wusste in der Familie. Denn als Karakelle ihr erstes Kind bekam, hat sie ihr bei der Beantragung des zusätzlichen Bedarfs für Babysachen geholfen. Ihre Mutter sei entsetzt gewesen, erinnert sich Marion Karakelle, als sie sich zu erkennen gegeben hat. Doch war sie nicht entsetzt darüber, dass sie nicht lesen und schreiben konnte, sondern dass sie so lange in Betreuung war und es nicht gelernt hat.
Sie war in einem Heim groß geworden und wenn sie in den Ferien zu Hause zu Besuch war, hat sie sich immer herausgeredet. Auch in der Schule hat das Versteckspiel funktioniert, obgleich es sehr anstrengend ist, wie Karakelle sich erinnert: »Das ist Stress, alles ist Stress, sogar das Aufstehen ist Stress, rund um die Uhr haben wir Stress. Man muss sich schon nachts überlegen, was könnte passieren, was brauche ich für eine Ausrede, damit ich durchkomme, so geht das den ganzen Tag. Das lernt man, sich durchzumogeln.«
Karakelle ist neun Jahre zur Schule gegangen, erst zur Haupt- und dann zur Sonderschule. Da sie als Kleinkind missbraucht worden ist, ist sie in das Heim gekommen, doch dort sei dasselbe noch einmal passiert. Aufgrund dieser schrecklichen Erfahrung war es ihr nicht möglich zu lernen. Sie meint, dass sie schon von der ersten Klasse an der Pausenclown war, doch sich keiner wirklich Mühe gegeben hätte, nachzufragen und ihr die nötige Hilfe zukommen zu lassen.
Marion Karakelle hat jetzt die Scheu verloren nach Hilfe zu fragen. »Ich bin jetzt in Ihrer Welt«, sagt sie, »zuvor war ich nur in meiner Welt. Es ist so wie für ein Kind, dass die Welt entdeckt.«

Das Alfa-Telefon des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung e.V. bietet anonyme Beratung für Betroffene und Angehörige. Unter (0 800) 53 33 44 55 gibt es Informationen zu Lernmöglichkeiten und ortsnahen Weiterbildungseinrichtungen mit Alphabetisierungskursen in ganz Deutschland.

Autor:

Kirchenzeitungsredaktion EKM Süd

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