Tschechien: Vom drohenden Ende der Dorfwirtshäuser

Auch für nur ein Bier wird ein elektronischer Kassenbeleg fällig. | Foto: Petr Špánek

Von Steffen Neumann

Die Tschechen gelten als das atheistischste Volk Europas. Bei der letzten Volkszählung 2011 erklärten sich etwas mehr als zwei Millionen Menschen für gläubig, das sind gut 20 Prozent der Bevölkerung. Dagegen erklärten 30 Prozent, dass sie weder an Gott noch an eine andere höhere Kraft glauben. Vor allem auf den Dörfern bleiben Kirchen den größten Teil des Jahres geschlossen. Das hat auch Auswirkungen auf die Dorfgemeinschaft. Längst vorbei sind die Zeiten, als sich die Gläubigen nach dem Gottesdienst noch zum Frühschoppen im Wirtshaus trafen.
Das liegt aber inzwischen nicht mehr nur an der Kirche. Ein staatliches Gesetz geht den Dorfkneipen an den Kragen. Jeder Gast, der auch nur ein Bier getrunken hat, muss seit Dezember einen gedruckten Kassenbeleg bekommen. Und nicht nur das. Der Wirt muss eine elektronische Kasse mit Onlineverbindung haben. Denn alle Umsätze werden in Echtzeit ins Finanzministerium gemeldet, das im Gegenzug bestätigt, dass der Wirt ordnungsgemäß Umsatzsteuer entrichtet. Ausgedacht hat sich das der Finanzminister, weil ihm jedes Jahr Milliarden durch Steuerbetrug entgehen. Der Minister ist zugleich einer der reichsten Tschechen und war vorher einer der erfolgreichsten Unternehmer, der den Eindruck hatte, dass er zwar ehrlich Steuern zahlt, der Staat mit seinem Geld aber ineffizient umgeht. Deshalb ging er in die Politik mit dem Versprechen, den Staat wie eine Firma zu führen. Doch die Kehrseite bekommen die »kleinen Gastwirte« zu spüren. Sie sollen nun ausbaden, was wahrscheinlich am wenigsten sie selbst verbrochen haben. Schon haben die ersten aufgegeben.
Die Anschaffung einer elektronischen Kasse samt Drucker und leistungsfähiger Internetverbindung war ihnen zu aufwändig. Oder sie wollten sich damit auf ihre alten Tage nicht mehr befassen. Sieht man sich manche Kneipe an, erscheint so viel moderne Technik in der Tat anachronistisch.
Eine Dorfkneipe brauchte bisher nicht viel, um zu funktionieren. Hier wird nicht teuer getafelt. Die Umsätze halten sich im Rahmen. Manche Wirtsleute betreiben Dorfgasthäuser sogar im Nebenberuf oder als Zuverdienst zur Rente. Wie die aktuelle Neuerung am Stammtisch ankommt, kann sich jeder ausrechnen. Doch der hat weniger Einfluss, als ihm gemeinhin zugesprochen wird.
Der Dorfkneipe fehlt die Lobby. Die Stadt bestimmt auch in Tschechien das Geschehen. Dazu kommt, dass besagter Finanzminister sehr populär ist – ein Macher und Aufräumer, so dass viele ihm seine Online-Erfassung durchgehen lassen. In den meisten Gaststätten funktioniert das System reibungslos. Die Gäste merken nichts davon. Es kann höchstens passieren, dass sie zum Zahlen an den Tresen gebeten werden. Tschechien wird moderner und opfert dafür seine letzte Dorfinstanz.

Autor:

Kirchenzeitungsredaktion EKM Süd

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