Inklusion auf Afrikanisch

Keine Berührungsängste mehr: Früher wurden Kinder mit Behinderung in Uganda stigmatisiert, heute lernt Kisekka (Mitte) Seite an Seite mit seinen Klassenkameraden. Ein Bewusstseinswandel hat eingesetzt. | Foto: Andreas Boueke
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  • Keine Berührungsängste mehr: Früher wurden Kinder mit Behinderung in Uganda stigmatisiert, heute lernt Kisekka (Mitte) Seite an Seite mit seinen Klassenkameraden. Ein Bewusstseinswandel hat eingesetzt.
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Sein rostiger Rollstuhl fährt durch enge Gänge und über kleine Stufen. Der fünfzehnjährige Kisekka rollt flink durch das kirchliche Krankenhaus am Rand der ugandischen Kleinstadt Mbarara.

Von Andreas Boueke

Kisekkas grüner Rollstuhl ist eine Gebrauchtspende aus Europa. Auf den Schotterpisten der Umgebung des Krankenhauses kommt das alte Modell an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Die Gummischicht der kleinen Vorderräder ist fast völlig abgenutzt. Die Hinterräder haben kein Profil mehr, der Plastiküberzug des Sitzes hat viele Löcher. Aber noch funktioniert das Ding. »Früher bin ich auf dem Boden gekrochen«, erinnert sich der Junge. »Deshalb habe ich so viele Wunden an den Knien.«
Kisekka bleibt in einem Wartesaal, bis sich die Tür zum Behandlungsraum öffnet. Es ist Cindy, seine Therapeutin. Sie erklärt: »Kisekkas Lähmung ist eine Konsequenz seines eigentlichen Leidens, der Spina bifida, ein offener Rücken. Diese Fehlbildung wirkt sich auf seinen gesamten Unterkörper aus.«
Kisekka ist barfuß. Er trägt eine alte Schuluniform, die einzige, die er besitzt: gelbes Hemd, roter Pulli und kurze Hose. Seine Knie und Schienbeine sehen genauso geschunden aus wie der Rollstuhl. Am Tag zuvor hat der Auspuff eines Taxis die Haut an seinem Bein verschmort. Schwester Cindy verbindet die Wunde neu: »Er hat keinerlei Gefühl in seinen Beinen. Man könnte sie in Feuer legen und trotzdem spürt er nichts.«
Kisekka ist ein Waisenkind. Als er neun Jahre alt war, starben seine Eltern an Tuberkulose. Zwei Jahre lang haben ihn sein älterer Bruder und seine beiden Schwestern ernährt, obwohl sie selbst noch Kinder waren. Die vier Geschwister wohnten zusammen in einer alten Hütte aus Holz und Lehm unter einem dicken Strohdach. Von den Nachbarn bekamen die Kinder keine Hilfe. Die Dorfgemeinschaft hat sie nie richtig aufgenommen. Kisekkas Behinderung galt als Zeichen der Schande. Seine Stimme klingt traurig, wenn er von dieser Zeit erzählt: »Sie haben Angst vor Kindern wie mir. Sie halten uns für nutzlos, für verhext. Sie behaupten, Gott habe uns verflucht, er würde uns nicht akzeptieren. So ein Leben kann nicht gut sein.«
Viele der Narben an seinen Beinen erinnern an diese Jahre, während der er sich nur kriechend bewegen konnte. Als die Organisation OURS auf ihn aufmerksam wurde, war er unterernährt und verwahrlost. Zuerst behandelten die Ärzte seine Wunden und Deformationen. Schon bald ging es ihm deutlich besser. Dann bekam er seinen ersten Rollstuhl und ein Schulstipendium für das Internat der Ruharo Berufsschule, keine fünfhundert Meter von dem Krankenhaus entfernt.
Auf dem staubigen Weg vom Krankenhaus zum Internatsgebäude kommt Kisekka an einem kleinen Bolzplatz vorbei, auf dem einige Jungen mit einem selbst gemachten Ball aus zusammengebundenen Plastiktüten spielen. Die meisten sind barfuß, andere tragen Gummilatschen aus alten Autoreifen. »Tor!«, freut sich Kisekka mit dem Schützen. Nach dem Spiel bieten zwei Jungen ihm an, ihn zu schieben.
Der Direktor der Schule, Chinfred Matota, sitzt auf einem wackeligen Stuhl im Lehrerzimmer. »In unserem Land sind einige Schulen ausgewählt worden, behinderte Kinder zu unterstützen; in Mbarara war das unsere Schule«, erklärt er nicht ohne Stolz. Er berichtet, dass seine Ruharo Berufsschule die einzige Inklusionsschule des Bezirks ist. »Das Bewusstsein aller Kinder hat sich verändert. Sie sehen, dass auch Schüler mit Behinderung gute Leistungen bringen können. Und sie erzählen davon, wenn sie nach Hause fahren. Die Kinder fangen an, miteinander zu spielen. So merken alle, dass sie Freunde sein können.« Kisekka sei einer der besten Schüler seiner Klasse: »Deshalb glaube ich, dass er eine leuchtende Zukunft hat. Vielleicht wird er mal zu einem bekannten Fürsprecher für Kinder mit Behinderungen.«
Nachts schläft Kisekka in einem großen Saal. Zwölf Doppelbetten stehen so eng beieinander, dass kein Platz für Schränke oder Stühle bleibt. Kisekka schläft gerne in dem Saal: »Ich könnte sowieso nicht allein in einem Raum schlafen. Es gibt viele Gefahren, vor denen die anderen mich beschützen können. Manchmal wollen Diebe etwas in der Schule stehlen. Dann machen sie ein Feuer und alle rennen raus. Wenn so was passiert, können meine Kameraden mir helfen und meine Sachen aus dem brennenden Raum retten.«
Auch im Alltag ist Kisekka oft auf die Hilfe seiner Kameraden angewiesen. »Mit dem Essen bekomme ich meist Hilfe. Aber manchmal vergessen sie, meinen Teller mitzunehmen oder sie vergessen, mir ein Brot zu bringen. Wenn es dann nichts mehr in der Küche gibt, muss ich hungrig ins Bett gehen. So ist das halt.«
Mit Mädchen spricht Kisekka so gut wie nie. Im Süden Ugandas ist es nicht üblich, dass Jungen und Mädchen außerhalb des Unterrichts Kontakt haben. Trotzdem weiß die Klassensprecherin Nyakado Sara gut Bescheid über Kisekkas Situation: »Ich würde gerne mit ihm sprechen, aber das geht nicht. Ich bin ein Mädchen und er ist ein Junge. Das würde falsch aussehen.«
In der Ruharo Berufsschule ist der Sozialpädagoge Mana Djosam dafür zuständig, Kinder wie Kisekka unterstützend zu begleiten: »Früher haben die Eltern hier noch gedacht, ihre Kinder würden krank werden, wenn sie ein behindertes Kind berühren. Sie glaubten, es gäbe einen Fluch. Aber mit der Zeit glauben immer weniger Leute solche Sachen. Sie staunen, wenn sie sehen, dass Kisekka etwas bauen kann, am Computer arbeitet, etwas leistet, das dem Land nützt. Ich bin mir sicher, dass das Stigma überwunden werden kann, wenn alle sehen, welches Potenzial in diesen Kindern steckt.«

Keine Berührungsängste mehr: Früher wurden Kinder mit Behinderung in Uganda stigmatisiert, heute lernt Kisekka (Mitte) Seite an Seite mit seinen Klassenkameraden. Ein Bewusstseinswandel hat eingesetzt. | Foto: Andreas Boueke
Mittagspause 
in der Ruharo Berufsschule: 
In einem verrußten Verschlag aus Well-
blechplatten kocht eine alte Frau für 
die Schüler Bohnen, Maisbrei und 
ein wenig Gemüse auf einer offenen Feuerstelle. | Foto: Andreas Boueke
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Kirchenzeitungsredaktion EKM Süd

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