»Sünde« – ein fremder Begriff

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Verloren: Jesus trägt die Sünde der Welt – darum geht es in der Passionszeit. Doch immer weniger Menschen können sich darunter noch etwas vorstellen.

Von Andreas Roth

Verstehen Sie den Begriff Sünde noch? Bei einer gleichlautenden Umfrage im Internet unter Kirchenmitgliedern in Sachsen gab es folgendes Ergebnis: 76 Prozent der Antwortenden meinten: Ja, er ist wichtig für meinen Glauben. Nur 15 Prozent halten ihn für zu negativ und veraltet. »Außerdem ist er missverständlich und muss Außenstehenden immer erst erklärt werden«, begründet etwa eine Befragte ihr Nein. Repräsentativ ist diese Umfrage allerdings nicht.
Denn insgesamt sind es nur noch zehn Prozent, die noch persönlich an so etwas wie Sünde glauben, hat das Meinungsforschungsportal Statista bei einer Umfrage unter 1 020 Deutschen im letzten Jahr herausgefunden. Die Mitgliederumfrage der EKD oder der Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung dagegen haben gar nicht erst nach der Sünde gefragt, erklärt der Leipziger Religionssoziologe Gert Pickel und ergänzt: »Ich vermute, dass der Gedanke der Sünde für die meisten Gläubigen immer mehr aus dem Blick rückt.«
In Medien und in der Alltagssprache ist das Wort längst banal geworden: als Park- oder Steuersünde etwa. Oder gar als etwas Verlockendes. »Nur eine kleinere Zahl eher frommer Menschen dürfte noch ein strengeres Distanzverhältnis zur Sünde haben«, so Pickel. Das bestätigt auch eine repräsentative Umfrage aus Österreich. Bloß acht Prozent der Befragten verbinden mit Sünde, »nicht an Gott zu glauben«. Dieser Wert liegt auf einer Ebene mit dem zu schnellen Fahren des »Tempo­sünders« oder zu ausgiebigem Essen und Trinken.
Was für die meisten Österreicher aber tatsächlich als Sünde verstanden wird: Stehlen (63 Prozent), falsche Beschuldigungen (59 Prozent) oder den Partner mit jemand anderem betrügen (54 Prozent). »Mit der Religiosität ist auch der Begriff der Sünde auf dem Rückzug«, interpretiert der Chef des Linzer Market-Instituts, Professor Werner Beutelmeyer, diese Ergebnisse seiner Umfrage. Aber haben die Menschen damit auch vergessen, was Sünde meint? Dieser Schluss wäre voreilig.
Eine Befragung von 8 200 Berufsschülern in ganz Deutschland kommt nämlich zu einem anderen Ergebnis. Zwei Drittel von ihnen verbinden mit Sünde den »Missbrauch von Vertrauen«. »Sünde ist für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen allererst eine Beziehungstat im sozialen Nahbereich«, schreibt der Braunschweiger Soziologie-Professor Andreas Feige in seiner Studie. Genau darum ging es übrigens auch in der biblischen Geschichte vom Sündenfall im Paradies: um gebrochenes Vertrauen und um gebrochene Beziehungen. Und so verbinden die meisten Jugendlichen in dieser großen Umfrage mit Sünde das Fremdgehen in einer Partnerschaft, Gewalt, Lüge und Diebstahl. Traditionell Anrüchiges wie sexuelle Beziehungen vor der Ehe oder Homosexualität dagegen ist für sie am wenigsten Sünde.
Denn sie gehen von Einvernehmen und Liebe aus – also von heilen Beziehungen, dem Gegenteil ihrer Vorstellung von Sünde. Gott kommt in den Antworten der jungen Erwachsenen freilich nicht vor. Also haben auch sie nur einen trivialen Sündenbegriff, weit entfernt von biblischer Tiefe?
In der Bibel jedenfalls ist Gott mitten in den Beziehungen zwischen Menschen. Und Sünde ist das Zerreißen der Beziehungen – also Misstrauen, Verrat, Lüge und Gewalt, so wie in den Antworten der Umfragen. Das war bei Adam und Eva so, bei Kain und Abel, bei Jesus am Kreuz. Gott ist mittendrin und leidet mit. So wie viele Menschen heute, auch wenn ihnen der Begriff »Sünde« längst fremd geworden ist.
Die Kirche kann traurig darüber sein, dass immer mehr Menschen ihre Worte nicht verstehen. Sie kann aber auch nach dem lebendigen Kern in ihnen suchen. Sie wird bei vielen Menschen auf eine Sehnsucht nach heilen Beziehungen treffen, das zeigen die Umfragen. Das Thema der Sünde hat sich nicht erledigt.

Autor:

Online-Redaktion

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