»Der Engel schwieg«

Foto: epd-bild

Volkstrauertag: Über die Gegenwart des Leids in der Sprache wird der Autor
am Sonntag bei einer Gedenkveranstaltung in Wittenberg sprechen.

Von Alf Christophersen

Zwanzig Jahre nach Kriegsende präsentierte Heinrich Böll mit »Heimat und keine« überschriebene Reflexionen zur Präsenz der Zerstörung in einem Land, das sich den Neuaufbau auf die Fahnen geschrieben hatte: »Menschen sind wohl nur da halbwegs zu Hause, wo sie Wohnung und Arbeit finden, Freunde und Nachbarn gewinnen. Die Geschichte des Ortes, an dem einer wohnt, ist gegeben, die Geschichte der Person ergibt sich aus unzähligen Einzelheiten und Erlebnissen, die unbeschreiblich und unwiederbringlich sind.«
Köln war für Böll – im Dezember 2017 wäre er 100 Jahre alt geworden – Heimat in doppeltem Sinn: als Vorkriegs- und Nachkriegsstadt. Beide waren für ihn »Gegenstand der Erinnerung – und der Sentimentalität natürlich«. So hatte sich in sein Gedächtnis auch die Stille eingebrannt, die wie der Staub »unermesslich« über der Zerstörungslandschaft lag. 1950 hätte Böll eigentlich einen Roman veröffentlichen wollen, in dem er sich mit dem Krieg auseinandersetzte. »Der Engel schwieg« erschien dann aber erst 1992 postum. Der Verlag hielt ihn zu Beginn der 1950er-Jahre für nicht (mehr) angemessen. Nicht der Krieg selbst war Gegenstand dieses am 8. Mai 1945 einsetzenden und mit Rückblenden arbeitenden Romans, sondern das Geschehen »zeigt nur«, wie es der Autor selbst beschreibt, »die
Menschen dieser Zeit, ihren Hunger«.
Berichtet wird »von einer Liebesgeschichte, klar und spröde, die der Phrasenlosigkeit der ›heimkehrenden‹ Generation entspricht, die weiß, daß es keine Heimat auf dieser Welt gibt«. Zu Beginn begegnet der Protagonist einem Engel. Der Ausdruck der Plastik war »milde und schmerzlich lächelnd«. Mit Entfernung des auf ihr liegenden Staubes verschwand die ursprüngliche Aura und damit alle Lebendigkeit. Das Schweigen des Engels, der eine Lilie in der Hand trägt, dominiert die Erzählstränge, ja, es wird am Ende noch dadurch potenziert, dass ein anderer schweigender Engel, machtlos mit dem Gesicht nach unten, während einer Beerdigung in den Friedhofsschlamm gedrückt wird, sein Schwert liegt zerbrochen neben ihm. Böll beschreibt die Unfähigkeit, erlebtes Grauen, aber auch die Einsicht in individuelle und kollektive Schuld zur Sprache zu bringen. Das Leid ist allzu übermächtig. Es gibt keine »Stunde Null«. Stattdessen dominieren eben nicht nur die Brüche, sondern auch die Kontinuitäten.
Aber die Beschwörung der Sprachlosigkeit behielt in der Literatur nach ’45 nicht das letzte Wort. Mit Energie schob sich die Einsicht in den Vordergrund, dass nur die Artikulation und die gemeinsame Kommunikation es möglich machten, sich des Gewesenen zu erinnern, um gerade auch als Gesellschaft wieder handlungsfähig zu werden.
Martin Walser, der den ersten Frankfurter Auschwitzprozess von 1963 bis 1965 beobachtete, formulierte noch 2004 nachdrücklich: »Wenn ich mit Sprache zu tun habe, bin ich beschäftigt mit der Verwaltung des Nichts. Meine Arbeit: Etwas so schön zu sagen, wie es nicht ist.« Wenn Walser Sprache als »Bewegung schlechthin« begreift, nimmt er die zentrale theologisch-philosophische Einsicht auf, dass sich in der Äußerung ein realitätsveränderndes Ereignis vollzieht. Wer also Erinnerung ausdrückt, gestaltet die Gegenwart. Trifft dies zu, wird der Zustand des Schweigens als besonders
schmerzhaft und lähmend erfahren.
Gerade Schriftsteller sind es, die es, allein schon aus Gründen ihrer Profession, nicht ertragen, sprachlos bleiben zu müssen. Nicht von ungefähr sind Publikationsverbote ein bewährtes Repressionsmittel. In seltener Intensität hat auch Ingeborg Bachmann mit dem Schweigen gerungen, das in den 1950er-Jahren nicht nur lähmend über den Menschen lag, sondern auch von ihnen ausging. »Schweigt mit mir, wie alle Glocken schweigen!« – mit diesem Aufruf lässt sie in »Die gestundete Zeit« ihr Gedicht »Psalm« beginnen, das dann schließlich auf die verstörende Bitte zuläuft: »In die Mulde meiner Stummheit / leg ein Wort / und zieh Wälder groß zu beiden Seiten, / daß mein Mund / ganz im Schatten liegt.«

Der Autor ist promovierter Theologe und Studienleiter der Ev. Akademie Sachsen-
Anhalt.

Autor:

Adrienne Uebbing

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