VON FALSCHEM UND WAHREM
TROST

Es geschah an einem jener Samstagabende im Frühherbst, an denen der Heurige vortrefflich mundet, der Wirt spendabel war, die Gäste froh dreinschauen.  Da saß Thomas Bernhard persönlich in seinem Grinzinger Stammlokal. Er genoss bereits den zweiten - vielleicht schon den dritten - Schoppen und tat, was er am besten konnte: schweigend reden. Und siehe - es öffnete sich die Tür zur Terrasse und wie die Hauptfigur aus einem Heimatfilm nahte Franz Kogler, Kaplan der Kaasgrabenkirche "Mariä Schmerzen". Ein junger Mann mit sauberem Hemd und der nervösen Würde eines Menschen, der viel glauben möchte und noch wenig weiß.

Die beiden Männer kannten sich flüchtig, vom Besuch einer Ausstellung über „Kirche und Kunst im 20. Jahrhundert“, wo Bernhard laut gelacht hatte, als er das Kreuz aus Plastik sah, und Kogler ihn mit einem Blick halb mitleidig, halb neugierig gemustert hatte.

„Nun, lieber Kogler“, grüßte Bernhard jetzt, das Glas hebend, „was gibt’s denn morgen am Sonntag? Auferstehung, oder nur Buße?“ Der Kaplan seufzte, setzte sich, bestellte einen Gespritzten, blickte auf sein Gebetbuch, das er immer dabei hatte wie andere die Zigaretten. „Auwei“, antwortete er, „morgen soll ich den Herrn Dekan vertreten. Ich muss die Predigt halten. Thema: ‚Der Trost‘. Aber ich weiß gar nicht, was das ist. Trost!“

„Prost” sagte Bernhard und lachte das unheilvolle, keuchende Lachen des Lungenkranken, der er war - ein Lachen, das zugleich Hohn und Mitgefühl war. „Trost!“, rief er, „wenn’s den gibt.“ Er rückte das Glas zur Seite, griff in die Luft, als wollte er eine Fliege erwürgen, und begann zu sprechen – wie einer, der längst beschlossen hat, dass alles Gesagte schon zu spät kommt. Und der Kaplan, ein frommer Mann mit technischer Ambition, stellte heimlich seinen kleinen Kassettenrekorder auf den Tisch hinter die halbleere Flasche, jenen tragbaren Sony mit den schwarzen Tasten, den er immer bei sich trug, um etwaige Eingebungen aufzunehmen. Er drückte auf „Record“.

Da sprach Thomas Bernhard: „Was ist Trost? Der Trost, ja, der Trost, dieses fatale Zwischenprodukt menschlicher Erträglichkeitschemie, ist nichts anderes als die größte und raffinierteste Verdrehung, die der Mensch seit Erfindung der Sprache zustande gebracht hat. Trost ist eine rhetorische Gymnastikübung vor dem Abgrund. Man nimmt den Misserfolg, wickelt ihn in eine theologische Serviette, legt ihn auf den Teller des Schicksals und sagt: ‚Sieh her, wie schön der glänzt, dieser verbrannte Braten!‘ Und schon sitzt man da, kaut an seinem Unglück, das nun angeblich ein Segen ist, und lobt den Koch.

Der Heilige Paulus war darin ein Virtuose. Einer, der die Katastrophe als Gewinn bilanzierte. ‚Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig‘, schrieb er, nachdem er halb blind und völlig missverstanden in irgendeiner feuchten Zelle Cäsareas vor sich hin verrottete – und er meinte das nicht ironisch! Paulus ist der erste große Buchhalter der Niederlage, der sie als Kapital verbucht und Zinsen darauf erhebt. Wo andere scheitern, gründet Paulus Gemeinden. Wo andere zusammenbrechen, schreibt er Briefe. Ganze Stapel von Briefen an Leute, die er nie gesehen hat, die ihn aber später „Apostel“ nennen, weil sie selbst zu schwach sind, um ungetröstet zurückzubleiben.

Trost ist eine Kunstform, die aus Verzweiflung gemacht wird, und die meisten Menschen leben von dieser Kunst. Die Frau, deren Mann sie verlassen hat, sagt: ‚Jetzt kann ich endlich ich selbst sein.‘ Der Arbeitslose sagt: ‚Jetzt habe ich endlich Zeit für mich.‘ Der Todkranke sagt: ‚Ich hatte ein gutes Leben.‘ – Und alle lügen, lügen so herrlich, dass der liebe Gott, wenn es ihn gäbe, im Himmel applaudieren müsste.

Ich habe einmal einen Mann gekannt, der sein Haus verloren hatte, weil er die Heizung mit Benzin statt Heizöl befüllt hatte. Als die Versicherung nicht zahlte, sagte er, das sei eine ‚Reinigung des Besitzes‘ gewesen. Er lebte danach in einem Wohnwagen hinter der Abdeckerei und erklärte jedem, der ihn fragte, er habe sich ‚bewusst reduziert‘. Trost als Diät.

Und da ist die Witwe, die sagt, ihr Mann sei ja nicht wirklich tot, sondern ‚in ihr weiterlebend‘. Sie sitzt dann abends vor dem Fernseher, trinkt zwei Gläser Dornfelder und ruft in den dunklen Raum: ‚Nicht wahr, Heinz?‘ – und Heinz antwortet nicht, wie immer.

Trost ist, wenn man sich einredet, dass das Loch, in das man gefallen ist, eigentlich eine Badewanne ist. Wenn man behauptet, die Wunde sei ein Fenster. Wenn man das Scheitern umtauft in Erfahrung, die Verzweiflung in Reifung, das Ende in Anfang. Paulus hat das zur Disziplin erhoben: Er stirbt täglich, schreibt er, und meint, das sei ein Fortschritt. Wir alle sterben täglich und nennen es Lebenslauf.

In der Wirklichkeit ist es nicht so, und wir wissen es. Aber in der Sprache ist es so, und in der Sprache stimmt es. Und es kommt darauf an, wie Eugen Rosenstock-Huessay sagte, dieses verdammte, angeblich reale Leben in die Sprache zu transformieren, in das Wort, in den Satz, in die Grammatik, in die Reihe der stummen Zeichen, die irgendwo, wir wissen nicht wo, wir wissen noch nicht einmal ob, reden und dadurch eine Welt schaffen, die aus unvergänglichem Sinn besteht. Und das ist der Trost des Trostes des Trostes.

Aber vielleicht, vielleicht, und das ist das Furchtbare, das zugleich das Erträgliche ist – vielleicht geht es gar nicht anders. Vielleicht ist der Trost genau diese Lüge, ohne die wir vor Morgenlicht schon tot wären. Ohne den Trost, diesen Zucker für das Denken, würden wir uns alle auf der ersten Bahngleisbrücke der nächsten Station aufhängen. Ja, der Trost ist Betrug. Aber er ist der einzige Betrug, den wir uns leisten müssen, um nicht an der Wahrheit zu erfrieren. Und so lächeln wir, mit den Lippen voller Tränen, und sagen: ‚Es wird schon‘. – Und es wird nicht. Aber wir leben weiter. Und das ist vielleicht, am Ende, der ganze Trost.”

Bernhard schwieg. Er trank aus. Der Kaplan saß still, verunsichert, erschüttert, beglückt. „Das“, sagte Bernhard, „war jetzt gratis ein Pfund Theologie, mein Lieber.“ Zahlte für beide und schritt in die Nacht hinaus. Und noch in dieser Nacht in genau dieser Nacht, zwischen eins und vier, saß der Kaplan in seiner kleinen Pfarrwohnung, die wie eine Mischung aus Sakristei und Kinderzimmer roch. Er spulte das Tonband zurück, exzerpierte Satz für Satz, schrieb es ab, ordnete es, kürzte es kaum. Und am nächsten Morgen, im Gottesdienst stand er auf der Kanzel, sah in die Gesichter seiner Gemeinde – und las das vor. Wort für Wort.

Was soll ich euch sagen? Nach dem Marienlied am Schluss kamen sie alle. Alte Frauen, junge Männer, alle kamen. „Herr Kaplan“, sagten sie, „das war eine gute Predigt. Endlich hat einer die Wahrheit gesagt. Wenn wir nicht schon getauft wären – würden wir uns jetzt taufen lassen! Und wenn wir nicht schon so katholisch wären – würden wir konvertieren. Weil Sie heute so wunderbar Kirche und Trost erklärt haben. Vergelts Gott.“ Der Kaplan lächelte still. Bernhard aber, der am Abend wieder beim Heurigen sitzt, wird zum Wirt sagen: „So funktioniert der Trost.“

Autor:

Matthias Schollmeyer

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