23.9.1939 - 23.9.2023
Sigmund Freud

Im Londoner Exil wacht Sigismund Schlomo Freud am Morgen des 23. Septembers 1939 nicht mehr auf. Der berühmte Wiener Arzt, dem wir die moderne Seelenheilkunde verdanken und der sich umfassend auch zu Fragen der allgemeinen Kulturtheorie geäußert hatte, war zwar vor einem reichlichen Jahr dem Zugriff der nazistischen Vernichtungsmaschinerie und damit dem sicheren Tode entkommen, aber seine Lebensuhr war abgelaufen - und er hatte es schon länger gewusst. Wie aber kann ein Mensch überhaupt sterben, der sich zeitlebens über die sogenannte „Seele” Gedanken gemacht hat? Und was würde solches Trotzdem-Sterben eigentlich bedeuten? Die Menschen haben für den Vorgang des jeweilig persönlichen „Aus-der-Welt-Gehens” immer wieder neue Begriffe gebildet, deren sympathischste hier kurz anklingen sollen:

Aus-der-Welt-Gehen
Entschlafen
Heimgang
Unter-die-Sterne-versetzt-Werden
Über-den Jordan-Gehen
Sich-Aufmachen
Abberufen-Werden

Die Biographien erzählen, dass Freud am Lebensende von einem garstigen Leiden geplagt gewesen war - welches dermaßen üble Gerüche verbreitete, dass sich sogar seine treuen Hunde von ihm zurückzogen. Der Hund - ältestes Symboltier der Seele, Hüter der Schwelle und Begleiter ins Jenseits. Freud hatte aber einen guten Arzt, der ihm vermittels des aus der Mohnpflanze gewonnenen Saftes den Übergang in die jenseitige Sphäre  ermöglichte.

Man spricht gewöhnlich von drei (oder sogar vier) großen Kränkungen, die die Menschheit bisher über sich hat ergehen lassen müssen: Die erste kam mit Nikolaus Kopernikus als „Kopernikanische Wende” und zeigte, dass man mit der Erdkugel nicht der Mittelpunkt der Welt war. Als Nächstes die Sache mit Darwin: Man stammt schlicht und ergreifend aus dem Tierreich ab. Die dritte unerfreuliche Kränkungsbotschaft brachte Sigmund Freud: Wir sind nicht Herr im Haus der eigenen Seele, - sondern werden von blinden Triebkräften hin und her gerissen. Und die vierte große Kränkung deutet sich heute an: Vielfach sind Maschinen einfach besser als wir! Freud jedenfalls hat mit seinen Theorien das große Tor aufgestoßen, hinter dessen beiden Flügeln jene Theorien lagern, welche solche psychischen Mechanismen erklären, die dem Menschen immer wieder zu schaffen machen können und ihn im Raum von Begehren und Verzicht wie unausweichliche Algorithmen bestimmen.

Aber - Freunds letzte Schrift „Der Mann Moses und die monotheistische Religion” sei hier einmal zur Lektüre empfohlen. Sie hat es in sich. Freud vermaß mit dieser kleinen Schrift die Grundzüge einer möglichen Entstehung der Religion seiner Väter. Mose, ein Ägypter am Hofe Echnatons, hätte nach der missglückten Religions-Revolution des jungen vielversprechenden Pharao dessen bei den Priestern Amons in Ungnade geratenen monotheistischen Eingottglauben (Aton/Sonnenverehrung) nach erfolgtem Wüstenexodus eines Teils des mit ihm ausgewanderten Sklavenvolkes (Israel) auf eigene Faust weitergeführt. Die gelungene Verschmelzung der alten ägyptischen Sonnengottheit mit der midianitischen Vulkangottheit, der man am Sinai begegnete, wäre ein längerer Prozess gewesen, der später dann schließlich zur Beschreibung (und dadurch Entstehung) jenes typisch israelitischen Jahwe-Glaubens geführt hätte, von dem die Kirche bis heute aus dem Alten Testament zehrt.

Der alte Freud hat das alles sehr schön und historisch nachvollziehbar dargestellt (und später ist es als wertvolle Idee auch in Jan Assmanns exorbitantem Buch „Exodus” in differenzierter Weise mit aufgenommen worden.) Wir verdanken also dem alten Seelenarzt mit seiner bunten Couch, welcher vor 84 Jahren im 84. Lebensjahr entschlief, eine der interessantesten Analysen im Blick auf die Entstehungsgeschichte des theologischen Herzstücks auch unserer christlichen Kirche, die ja nicht viel mehr ist (aber eben auch nicht weniger!) als die Fortführung des kompetent reflektierten Judentums mit anderen Mitteln. Nämlich - die Geburt des Monotheismus aus der Unbeugsamkeit eines ägyptischen Intellektuellen am Hofe des zu früh gescheiterten Pharaos Echnaton.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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