Erinnerungen …
Leberecht Gottlieb Teil 136
- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Es war im zweiten Monat seiner Haft in jenem Straflager bei Workuta und am dritten Tag des Monats Mai. Das Lager trug offiziell keinen Namen, inoffiziell aber wurde es von allen „der Kühlschrank Gottes“ genannt, weil hier jeder Atemzug zu eisiger Tortour gerann und selbst das Schweigen erfror. Leberecht Gottlieb stand an jenem Morgen in einer Schlange, die sich in die Wohnbaracke wand wie ein erschöpftes Reptil aus Wolle und Menschen. Es war Rasurtag. Der Tag, an dem das Lagerführungskommando befahl, man möge den Gefangenen wieder ein „menschliches Antlitz“ verleihen, wobei das Instrument, das dazu benutzt wurde, ausgerechnet das Gegenteil des Menschlichen in sich trug.
Das Gerät – ein unverwüstliches sowjetisches Konstrukt aus Bakelit, Stahl und ideologischer Rohheit – wurde seit Jahrzehnten nicht gepflegt, nur weitergereicht: von Hand zu Hand, von Gesicht zu Gesicht, von Haar zu Haar, bis jedesmal ein weiterer Häftling seinen Bart daran verlor. Hundert Männer hatten sich heute bereits damit rasieren lassen, hundert weitere würden folgen. Leberecht hielt inne, als das Gerät ihm gereicht wurde. Es war warm. Es vibrierte. Es roch nach Öl, Blut, Frost und Menschen. Und dann: Dieses Geräusch.
Ein Dröhnen, ein Surren, ein heiseres Kreischen, als würde ein gefangener Motor um Erlösung wimmern. Das Gerät sang seinen rostigen Psalmodien-Ton, und in diesem Ton lag eine ganze Welt beschlossen – ein Erinnerungsschlag, der Leberecht ins Herz traf. Denn dieses Geräusch kannte er. Und es fiel Leberecht wie Schuppen von den Augen, er erkannte, dass es nichts Neues unter der Sonne gibt - wie der Prediger Kohelet singt - nur Variationen ein und derselben ewigen Struktur. Erinnerungen ...
Um zu verstehen, was dem jungen Vikar Leberecht Gottlieb an jenem Nachmittag vor etwa siebzig Jahren im sächsischen Mumplitz begegnete, muss man sich jene kleine Stube vor Augen führen, die weniger ein Zimmer als ein Druckkessel gewesen ist. Dort saßen sie alle wie in einem verschlossenen Backofen, der seit fünf Uhr morgens geheizt worden war, weil der neunzigjährige Jubilar – ein Mann von bäuerlicher Konstitution und heroischer Schwere – stets gefroren habe, wie es hieß, und die Großfamilie entschlossen war, ihm an seinem Ehrentag keinerlei Frostempfinden zuzumuten. Der Ofen glühte, er glühte in jener unerbittlichen Weise, wie nur ein ostdeutscher Kochherd glühen kann, wenn er mit nassem Brikett mischbefeuert wird. Und er machte die Luft dick wie Stollenmasse; der Vikar spürte bereits beim Eintreten, wie seine geistliche Würde hier auf das Äußerste herausgefordert sein würde.
Die Stube war eng, und man kann es so sagen "fast bösartig" überfüllt. An den Wänden lehnten Regale aus Birkenfunier, die in ihrer ermüdenden Scheußlichkeit die sozialistische Wohnkultur dokumentierten, wie sonst nichts. Auf einem dieser Regale thronte in vergnügtem Nebeneinander die Stoffwelt einer ganzen Generation: Schnatterinchen, der lächelnde debile Kobold Pittiplatsch -und eine Matrioschka. Jene ewig ineinander verschachtelte Göttin osteuropäischer Geheimnisse –, die mit glasigen Augen auf das Geburtstagstreiben herabsah, als könne sie kaum fassen, dass sie ausgerechnet hier gelandet war, in Mumplitz, Großraum Meißen, im finstersten Abschnitt der Republik, just am Geburtstisch eines Mannes, der seit 1930 systematisch widersprüchlichste Regierungen überlebt hatte.
Man saß dicht gedrängt. Teller klirrten, Gabeln schabten über Schleimkuchen -, aus riesigen Glasschalen wurde Gehacktes mit Zwiebel gereicht. All das war hier zu jedem Geburtstagskaffee üblich - die Eucharistie des säkularisierten Arbeiter- und Bauernproletariats. Und immer wieder erklang der eine Satz, der den Vikar zugleich umarmend demütigte: „Greifen Sie sich zu, Herr Pfarrer! Greifen Sie sich nur zu!“
Dieser Satz, im Mumplitzer Idiom ein liebevoller Befehl, klang für Gottlieb wie eine Einladung zur Läuterung. Und er griff, er griff sich – aus Höflichkeit, aus Unterwerfung –, während ihm die Stickluft in die Poren kroch.
Auch die Friseuse kam. Aber nicht zu spät. Eigentlich hätte sie am Vormittag erscheinen sollen, um den Jubilar „noch einmal schön“ zu machen, wie die Tochter erklärte. Doch die Friseuse war, wie sie mit erhobenen Armen berichtete, von einem Schwein des Nachbarn verfolgt worden, das von Panik befallen war, als der LPG-Deckhengst durch achtlos nur angelehnte Scheunentor ausgebrochen war. Die Friseuse habe fliehen müssen, quer durch das Dorf, mit ihrer Werkzeugtasche in der Hand, verfolgt von zwei wildgewordenen Bestien, denen ihr Rockzeug wohl als natürlicher Feind erschienen sei. So traf sie eben erst jetzt, atemlos, rot, und ohne jede Rücksicht auf die bereits sitzende Kaffeegesellschaft.
Sie zückte ein sowjetisches Haarschneidegerät – ein klobiges, mächtig vibrierendes Ungetüm in der Farbe „panzergrün“ – und begann unvermittelt, dem Jubilar während des Essens den Schädel zu rasieren. Sie hielt seinen Kopf dabei wie einen Kürbis, setzte die Maschine an – und dann begann ein infernalisches Surren. Es klang, als würde ein Schiffspropeller in der Stube laufen.
Die Stoppeln schossen davon. In alle Richtungen ...
Sie flogen.
Sie regneten.
Sie stäubten.
Sie fielen, legten sich und segelten in jedes Gefäß, auf jedes Gebäckstück, sie glitzerten in der Kaffeekanne, sie landeten zärtlich auf den Lippen der Gäste, und Leberecht Gottlieb sah mit einem Schauder, der ihn bis hinab auf die theologische Basis traf, dass in seinem Tassenrand ein regelrechter Schaum aus grauen Haarpartikeln schwamm. Die Maschine arbeitete unbarmherzig –und die Stoppeln bedeckten den gedeckten Tisch wie die Asche eines misslungenen Lagerfeuers.
Wieder erklang der Satz: „Greifen Sie sich zu, Herr Pfarrer! Hier, der Mohnkuchen – greife Sie sich zu!“ Gottlieb fühlte die widerlichen Partikel zwischen seinen Zähnen knirschen. Er nickte stoisch, er kaute. Und sagte kein einziges Wort.
Dann noch das: Eine alte Frau – Leberecht wusste ihren Namen nicht, er hatte sie bisher bei sich selbst immer nur „die mit dem Bein“ genannt – trat jetzt dicht an den werdenden Pfarrer heran. Sie roch nach Wintermantel und nach einer merkwürdigen Salbe. Zog den Strumpf hoch, löste die Binde und sagte mit einer Stimme, die gleichzeitig hoffend und triumphierend klang:
„Schauen Sie mal mein offnes Bein, wie’s wieder eitert, Herr Doktor. Kann man da nicht was machen?“
Leberecht Gottlieb zwang sich hinzuschauen, er nickte und murmelte Sätze allgemeinpastoralmedizinischer Art, um die Situation zu retten. Doch damit war noch nicht das Ende erreicht. Nein, nein - die alte Schulzen – eine Frau, deren Rock aus so vielen Schichten bestand, dass Generationen darin hätten wohnen können – nahte und trat heran. Aus eben einer jener unzähligen Falten ihres Gewandes zog sie ein kleines Glas hervor, kaum größer als ein Puppenkelch. Ihre Gallensteine waren das. Vor wenigen Wochen operativ entfernt. Nun aber – einem Fetisch gleich - öffentlich präsentiert. Sie schraubte das Glas auf, die Steine klirrten heraus, als wären sie kleine, störrische Murmeln und rieselten direkt auf den Kuchenteller des Vikars, den er noch nicht leer hatte. Sie lagen dort wie ein absurdes Naturwunder, das niemand bestellt hatte.
„Sind sie nicht wunderbar?“ fragte Frau Schulze.
Gottlieb – im Gefühl, dass die DDR an diesem Tag sowohl real existiere und zugleich ihre metaphysische Zuspitzung erreicht haben müsse – antwortete tonlos:
„Ja. Ich habe sie gesehen. Ich habe sie nun gesehen.“
Er stand auf.
Er wollte fliehen.
Er wollte nur noch Luft, echte, kalte, sächsische Winterluft.
Doch beim Hinausgehen rief der Jubilar hinter ihm her, mit jener grundehrlichen Herzlichkeit, die in Mumplitz Gesetz war:
„Und greifen Sie vorher sich noch mal zu, Herr Pfarrer!“
Dann drückte man ihm ein mittelgroßes Päckchen Kuchen in die Hand, sorgfältig eingewickelt in jene Aluminiumfolie aus dem Westen, auf die die Familie stolz war wie auf einen Staatspreis. Der Kuchen war sicherlich - das ahnte Leberecht mit Grausen - noch immer übersät mit den Haarstoppeln des Jubilars.
Der Vikar Leberecht Gottlieb verbeugte sich und verließ die Stube. Er hatte heute ein besonderes Kapitel erlebt, das ihn für immer prägen sollte - nämlich insofern es den Ausschlag dafür gab, alles niederzuschreiben, was da im Pfarramt passierte. Alles. Tag für Tag. Woche für Woche. Monat für Monat. Jahr um Jahr - von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Und so hob der greise Pastor Emeritus Leberecht Gottlieb das vibrierende urige Gerät an sein Gesicht – jene Maschine, die den Menschen den Bart nahm - und dadurch die Erinnerung an längst Vergangenes wieder gab. Indem nun die stählernen Klingen torkelnd über seine verbrauchte Haut schabten, öffnete sich im Inneren des alten Mannes ein Tunnel zu jener Zeit, die eigentlich als vergangen galt. Und Leberecht war zugleich jung und der Greis - wieder in Mumplitz. Im Geiste ...
Autor:Matthias Schollmeyer |
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