Sommergeschichten (Teil 1)
DIE KÜSTERIN

Wenn man an einem nassen Morgen die Pforte der Kirche W. öffnet, schlägt einem nicht nur der Geruch von kaltem Gestein und altem Teppich entgegen, sondern vor allem ein Blick – der Blick der Küsterin. Frau Ruthgard Ebeling. Mitunter als „die Unfreundliche aus dem Hause Gottes“ verspottet, doch auf dem gedruckten Gemeindeblatt offiziell geführt als „Kirchmeisterin“. Ein Titel, der sie täglich daran erinnerte, was sie einmal sein wollte – und was aus ihr tatsächlich geworden war.
Das Gotteshaus oder die Kirche, deren Anblick sie selbst kaum mehr ertrug, war seit Jahrzehnten dem Zahn der Zeit preisgegeben worden: abgeplatzte Gewölbefugen, missmutig knarzende Bankreihen, ein Taufstein, der mit einem notdürftig gestrickten Deckchen gegen Spinnen geschützt werden sollte, was durchaus an Scheußlichkeit nicht mehr zu überbieten war. Nichts an diesem Gebäude war noch schön, nichts erhebend. Und dennoch weigerte sich Frau Ebeling, die Schuld daran zu tragen. Berechtigt. Sie war nur die Dienerin, sagte sie. Die Verwalterin, nicht die Verursacherin.

Sie schämte sich. Aber diese Scham war nicht eingestanden, sondern sublimiert, verwandelt in Abwehr, in Unzugänglichkeit, in den ganzen Hofstaat frostiger Affekte. Ihr garstiges Wesen, der patzige Tonfall, das schnippische Zurückweisen selbst freundlichster Fragen – all das war Ausdruck einer alten, nie ausgesprochenen Kränkung: dass niemand, wirklich niemand, ihr die Last dieser vernachlässigten Kirche abgenommen hatte. Kein Pfarrer hatte je Farbe bekannt und Geld in die Hand nehmen wollen, kein Denkmalamt die notwendigen Schritte eingeleitet, kein Gemeindevorstand das Gespräch mit großherzigen Spendern gesucht. Und so war sie eben geworden, wie sie war, diese Kirche. Und ihre Küsterin: unangenehm, mürrisch, abweisend, grantig, verdrossen – als hätte man all die Lasten nicht auf sie gelegt, sondern aus ihr gemacht.
In ihrer Stimme lag stets etwas Lästiges, als wolle sie jeden Satz gleich wieder zurücknehmen – aber nicht aus Reue, sondern aus Trotz. Besuchergruppen, besonders jene aus dem weiten Ausland und von Übersee, empfing sie mit einem Stirnrunzeln, das von innerer Verdrossenheit kündete. Als neulich ein älterer Herr höflich nach dem Baujahr der Orgel fragte, entfuhr ihr ein garstiges „Noch älter als Sie!“, woraufhin ein peinliches Schweigen die Luft gefroren machte.
Garstig war sie nicht nur im Wort, sondern auch im Gang. Ihre Schritte hallten harsch durch das Kirchenschiff, als wollten sie sagen: „Seht her, ich habe keine Zeit für euer Wohlfühlbedürfnis.” Abweisend grüßte sie all jene, die sich für Kirchenführungen interessierten, und schnippisch belehrte sie solche, die zu nahe an die Sakristei herantraten: „Nicht alles, was offen steht, ist für jedermann!“

„Furchtbar“, sagte einmal ein Konfirmand über sie. Und er hatte nicht Unrecht. Ihre Blicke waren inquisitionesk, ihre Sätze barsch. Nur wenn niemand in der Nähe war, wenn sie in der halbdunklen Apsis allein stand, konnte man in ihrer Miene etwas erkennen, das an Gram erinnerte – nicht aber an Einsicht. In ihrer Welt war der Verfall der Kirche eine Zumutung, die andere zu verantworten hatten. Und sie hatte Recht damit.
Und dann kam jener Tag im Mai, an dem eine Gruppe von siebzehnjährigen Mädchen die Kirche besuchte – Schülerinnen eines Gymnasiums, begleitet von einer glockenklaren Lehrerin, die alles wissen wollte: über das Marienfenster, das alte Bischofsstabkreuz in der Ecke, selbst über das rätselhafte Zeichen an der Sakramentsnische, das niemand mehr entziffern konnte.
Diese Lehrerin war eine Erscheinung für sich – adrett gekleidet, mit einem sich im Winde bauschenden Sommerkleid, in dem diese Frau wie zartes Blütenweiß die staubige Luft der Kirche durchschritt, als wäre sie einer anderen Zeit entstiegen und hätte sich hier nur für kurze Zeit verirrt. Sie erinnerte an Lady Felicita aus den alten Pater-Brown-Geschichten: klug, freundlich, wach, mit einem feinen Humor und einem Herz, das keine Mühe scheute, um Dinge und Menschen in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Wenn sie sprach, war es, als käme das Licht durch die Kirchenfenster nicht mehr bloß von außen, sondern von ihr selbst. Frau Ebeling aber knurrte sich durch die Führung wie durch ein großes Zahnweh. Kein Lächeln, kein Dank, keine Gnade.

Die Mädchen waren in das Gotteshaus eingetreten, sie sprachen leise, ehrfürchtig und hielten inne. Dann blickten sie nach oben. Ein Tympanon erhob sich über ihnen, wie in dem unüberbietbaren Roman Umberto Ecos mit dem Namen der Rose. Ein steinernes Weltbild, das sich um seinen eigenen Abgrund drehte. Dort waren sie alle: die mürrischen, die lästigen, die verdrossenen Seelen, in Bausch und Bogen eingemeißelt. Links unten eine garstige Altmagd, die mit unliebsamer Geste den Teufel versucht. Daneben eine heidnische Priesterin, die mit barschem Blick einen Engel Gottes zurechtweist. Oben, im Zentrum, eine Szene von eigentümlichster Spannung: Der himmlische Verwaltungsrat, kühl blickend, kalt urteilend – das zentrale Ministerium der cölestischen Sphäre, mit aufgerollten Akten und ungnädigen Urteilen, die dort in den Stein eingegraben waren. Darunter die verlorene Seele, fast ein Abbild Ruthgard Ebelings, wie sie schnippisch gegen das Urteil aufbegehrt, in peinlicher Pose des Widerwillens. Ringsumher kleine Dämonen mit patzigen Mienen, als hätte der Steinmetz die gesammelte Gemeinde der Unfreundlichen ins Relief gebannt. Eine wirklich sonderbare Communio, die nicht predigte, sondern anklagte und zugleich verurteilte – in abstoßender Schönheit, wie der Spiegel der Verquälung an sich.
Die Mädchen hatten fotografische Aufnahmen von dem monströsen Bilde angefertigt - und waren von Ruthgard Ebeling natürlich deswegen verbal attackiert worden. Als die Mädchen das Gotteshaus nun verlassen hatten, da begannen sie im Sonnenschein des Kirchhofs gleich zu tuscheln, zu kichern und zu spinnen. Noch ehe sie die erste Eisdiele erreicht hatten, war ein Dramolett entworfen – ein köstlich böses Spiel: „Die Küsterin” ward das kleine Stück geheißen. Unangenehm fast bis zum Schluss, denn die Hauptfigur wird wegen unterlassener Kirchenliebe in die Vorhölle geschickt. Dieses Thema hatten sie im Religionsunterricht in der letzten Woche gestreift - und es war so unendlich interessant gewesen. Dort nun  muss Ruthgart Ebeling  hundert Jahre lang vergilbte Kollektenabrechnungen ordnen.“ Alle waren sich einig gewesen: Dieses Weib gehörte versenkt. Versackt. Abgeführt in das Archiv der ewigen Misslaunigkeit.

Alle? Nein - denn da schaltete sich, bei einer Rast unter Kastanienblüten, die glockenklare Lehrerin ein – sanft, aber mit dieser hellen Entschiedenheit, die immer mehr wirkt als jede Predigt. Sie hob den Finger, lächelte nachdenklich, und sprach: „Was, wenn euer Engel Raphael im Drama – nicht nur Gerichtsvollzieher wäre, sondern auch Fürsprecher? Wenn er erkennt, dass hinter all dem Unfreundlichen eine überforderte Treue liegt, eine Einsamkeit, die sich als Strenge tarnt? Und wenn eben diese Erkenntnis das himmlische Kirchenministerium veranlasst, Ruthgard nicht zu verdammen, sondern zu versetzen?“ Da lachten die Mädel nicht mehr. Und der Text des Dramoletts wurde neu formuliert:

„Doch dann, Auftritt Erzengel Raphael! Mit goldenem Umhang und einem Protokollordner unter dem Arm überzeugt er das cölestische Ministerium davon, dass auch hartgesottene Seelen umgewidmet werden können. Ruthgard Ebeling wird – nach einem Härtetest in der Reinigungsabteilung des Himmels – zur Beauftragten für atmosphärische Würde in liturgisch vernachlässigten Regionen befördert. Mit Generalschlüssel zum Paradiesarchiv.“ Darüber lachten sie nun leiser, diese Mädchen - aber sie lachten. Und manche zogen ein nachdenkliches Gesicht, als hätte sich etwas verschoben – nicht nur in ihrem Dramolett, sondern auch im eigenen Urteil.

So bleibt uns Ruthgard Ebeling im Gedächtnis. Ihre Kirche übrigens ist inzwischen tatsächlich längst Ruine geworden. Wo? Irgendwo weit draußen im Lande Not. Aber die Geschichte dieser Frau – die lebt und lebt und ist nicht tot zu kriegen …

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer

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