Predigttext für den 13.7.2025: Lukas 6, 36-46
Augencreme ...

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Der Zyklop Polyphem lag im Dämmer. Die Höhle war karg. Stein, Schatten, Schafgeruch. Die Felswand war schwarz vom Ruß. Irgendwo tropfte Wasser. Der Speer, der ihm das Auge genommen hatte, lehnte noch immer da, an der Felswand. Seine Spitze war verkohlt, und der Griff klebte vom Blut. 

Er schlief nicht. Polyphem schlief nie richtig, seit jener Nacht, als Odysseus, Sohn des Laertes, ihm die Finsternis gebracht und das Auge zerstört hatte. Odysseus hatte getan, was man tun muss, um zu überleben. Der Listenreiche, der sich Niemand nannte. Seine Männer, von denen nur noch Erinnerung in Büchern lebt, waren alle im Magen des Zyklopen gelandet. Es war Zorn gewesen. Und Not. Deswegen der Speer tief ins Auge des Ungeheuers.
Seitdem war Polyphem blind. Blind und wach. Die Nacht war jetzt in ihm. Er sah sie nicht mehr draußen. Er sah gar nichts mehr.

Eines Tages kam ein Mann die Felsen hochgestiegen. Langsam, mit einem Stock. Seine Füße wussten den Weg, nicht seine Augen. Er war alt. Dünn. Die Stimme war ruhig. „Ich bin Teiresias. Ich komme aus Theben“ sagte er.

Polyphem brüllte nicht. Nicht mehr. Nicht wie früher. Nur ein Röhren in der Brust, wie aus alter Lava. „Bist du ein Arzt?“, fragte er.

„Ich war einmal ein Seher. Jetzt bin ich Heiler.“

„Man sagt, du seist blind?“

„Ja.“

„Dann kannst du mich nicht heilen.“

Teiresias setzte sich. Nicht weit vom Feuer. „Meine Blindheit kommt vom Zorn“, sagte er. „Hera schlug mich. Für das, was ich gesehen hatte. Götter werden zornig, wenn man zu genau hinsieht.“

Polyphem schwieg.

„Du bist auch blind vom Zorn“, sagte Teiresias. „Nicht nur vom Speer.“

„Ich bin blind, weil ein Mann mich betrogen hat“, sagte Polyphem. „Er nannte sich Niemand. Und stach mir mein Auge aus. Ich hasse ihn. Seitdem.“

Teiresias nickte. „Ich kenne ihn. Odysseus. Auch er ist blind.“

„Er sieht!“, rief Polyphem.

„Nicht wirklich. Er sah den Tod seiner Gefährten und schaut nun immerzu in den Gegenwind seiner Rache. Das ist alles. Auch das ist Blindheit.“

Polyphem hob den Kopf. Der leere Augenkrater schimmerte feucht.
„Was willst du?“

„Ich will den Splitter ziehen.“

„Welchen? Der Speer ist lange weg.“

„Nicht den im Auge. Den im Herzen.“

Der Zyklop atmete schwer. „Ich habe ein Auge verloren. Und jetzt willst du mein Herz aufreißen?“

„Nein“, sagte Teiresias. „Ich will, dass du wieder sehen kannst.“

Er zog ein kleines Fläschchen aus seinem Gewand. Ein Tropfen auf die Haut. Eine Salbe. Dick. Weiß. Riechend nach Myrrhe und Asche.
„Du glaubst, dass man mit zwei Augen besser sieht. Aber es reicht eins. Wenn es klar ist.“ Er trat näher. Legte die Hand auf die Stirn des Riesen. „Zorn macht blind. Er lässt dich die Splitter im anderen sehen. Aber nicht den Balken in dir.“

Polyphem zuckte.
„Was weißt du von meinem Balken?“

„Ich sehe ihn. Auch ohne Augen. Es ist derselbe, den ich trage. Es ist der Stolz. Der Schmerz. Die Einsamkeit.“

Die Salbe brannte. Polyphem knurrte. Dann keuchte er. Dann war es still. In der Höhle bewegte sich etwas. Nicht draußen. Drinnen. Der Zyklop begann zu weinen.

„Ich habe geglaubt, ich müsse zerschlagen, was mir das Licht nahm. Ich habe alles gehasst, was sah.“

„Jetzt erkennst du den Irrtum.“

„Ich war ein Tier.“

„Du warst ein Geschlagener.“

Stille.

Teiresias sprach: „Jesus von Nazareth wird einmal sagen: 'Du siehst den Splitter im Auge deines Bruders. Aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht.'“

„Ich habe keinen Bruder.“

„Dann fang mit dir an.“

Der Zyklop sank zurück. Die Stirn glänzte. Der Krater, der sein Auge war, war nicht mehr ganz leer.
„Was hast du getan?“

„Ich habe nicht geheilt. Nur erinnert.“

„Woran?“

„Dass wir sehen können, wenn wir aufhören, blind zu urteilen.“

Polyphem nickte. Schwer. Wie ein Berg, der sich entschließt, nicht einzustürzen.

Teiresias stand auf. Der Stock war wieder in seiner Hand.
„Du wirst anders sehen. Nicht mit dem Auge, das dir fehlt. Sondern mit dem, das du jetzt hast.“

„Und was ist das?“

„Das Auge des Erbarmens.“
Als er ging, ließ er eine kleine Dose zurück. Auf ihr stand in schlichter Schrift:

„Augencreme für Polyphem“
Gegen Zorn. Gegen Blindheit. Gegen den Balken.

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer

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