Unter den Mantel
der Geschichte geschaut ...

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Gleich nach dem Tag des persönlichen Schutzengels feiern wir heute den Tag der deutschen Wiedervereinigung. Man wird Reden hören. Richtig so! Und man ist immer noch nicht müde geworden, im Rückblick das Wunderhafte der Jahre 1989/90 zu beschwören. Richtig so! Denn da sei „die Mauer gefallen“, „die Freiheit ausgebrochen“, „die Geschichte zu Ende gegangen“. Doch wer heute im Herbst 2025 auf die Schatten und Lichtspiele der sogenannten Realität blickt, sieht auch noch mehr, sieht damit etwas anderes und sehr Seltsames. Nein - kein Wunder im Sinne einer plötzlichen göttlichen Suspension der politischen Physik, sondern ein feingliedriges Arrangement aus Überforderung, Müdigkeit und taktischer Intelligenz. Das in die Geschichte eingreifende Göttliche zeigt sich wieder einmal nicht als alttestamentarischer Donnerschlag, sondern als leises Murmeln in den Denkstuben jener damaligen Apparatschiks, die irgendwann verstanden hatten: Es geht nicht mehr .
Die göttliche Hand im Prozess der Wiedervereinigung – darf man sie zugespitzt als „Transzendenz der Erschöpfung“ bezeichnen? Wenn Gott eingreift, dann nicht als deus ex machina, der mit zorniger Faust den Vorhang vor der Leere des Tempels auseinanderreißt. Nein - er greift ein, indem er die mühsam gespannten Netze der Macht langsam schlaff werden lässt. Er lässt die Strukturen absacken wie zu lange gespannte Zeltdächer bei einem Regenguss. Dass gerade die klügsten Köpfe der Staatssicherheit solchen Verlust an Spannung als Erste erkannten, ist keine Anekdote, sondern eine bittere Pointe der Geschichte. In jenen Räumen, in denen jahrzehntelang Kontrolle als totaler Anspruch durchgeprobt wurde, entstand zuerst die Erkenntnis, dass Kontrolle nicht mehr möglich sei. Yuval Noah Harari hat in seinem 2024 erschienen Buch NEXUS darüber interessant berichtet.
Die Kirche – das alte Gegengewicht, das in der DDR zwischen Duldung und Subversion changierte – wurde in diesem Prozess zur paradoxen „Speerspitze wider sich selbst“ genutzt. Man nutzte sie, indem man sich von ihr als Predigtobjekt benutzen ließ. Die Räume der Friedensgebete wurden zum Ventil, aber auch zum Theater, das der Staat sich selbst inszenieren ließ, um der eigenen Bevölkerung zu gestatten, sich das Schauspiel der Freiheit vorzuführen. Doch wie es mit Speeren so ist: sie stechen oft vorbei und treffen ins Leere. So war die kirchliche Opposition nie revolutionäres Hauptquartier, sondern ein Ritualraum der sich langsam von selbst ergebenden und kontrollierten Selbstbefreiung – eine Vorbereitung auf das, was dann unausweichlich kam. Und das waren die Jahre nach 1990.
Das Bild des Auspressens einer Zitrone ist vielleicht zutreffend. Wo ein Staatswesen untergeht, dort gibt es viel zu schaffen und zu verdienen. Die Stasi-Leute hatten ihre Posten, Renten und Verbindungen längst klug gesichert, noch bevor die Gesellschaft überhaupt begriffen hatte, dass das Ende eingeläutet worden war. Der göttliche Eingriff bestand also nicht darin, das Unrecht zu strafen, sondern darin, dass das Unrecht sich selbst entleerte, dass das Reich der Kontrolle an seinem eigenen Datenwust erstickte oder verdurstete - wenn man so will. Die Apparate standen noch, aber sie waren hohl geworden, trotz aller Aktenfülle.
Und nun, fünfunddreißig Jahre später, zeigt sich die Ironie der Geschichte: Die „blühenden Landschaften“, von Helmut Kohl einst als blumige Verheißung prophetisch klug in Umlauf gesetzt - und von vielen erst einmal ungeduldig missverstanden, sie sind nun tatsächlich da – nicht als uniforme Prosperität im Sinne der alten Bonner Republik, sondern hier und da und mosaikartig sind sie groteske Wirklichkeit geworden. Es blüht, ja, aber es blüht verschieden. Industriegebiete, Solarparks, Kulturinitiativen in alten Fabrikhallen – Landschaften, die tatsächlich florieren, nicht weil das System der DDR überwunden wurde, sondern weil es sich selbst übergeben hatte.
Das Fest der Wiedervereinigung ist daher nicht nur eine nationale Reminiszenz, sondern Feier im Sinne dialektisch zu nennender Theologie: Das Göttliche wirkt, indem es den Raum des Menschen so eng macht, dass er selber aufhören muss, Theater zu spielen. Und als die noch schlauen Köpfe der Stasi damals zum ersten Mal insgeheim dachten: „Wir haben verloren“, dann war es wohl die Stimme der Transzendenz, die ihnen das sanft aber unaufhörlich verlockend in das Ohr geraunt hatte. Nicht Donner, nicht Blitz vom Sinai – sondern ein inneres trauriges Einsehen: Es geht nicht mehr.
Fünfunddreißig Jahre später, kann man sagen: Das Wunder der Wiedervereinigung war ein göttlich inspirierter Erschöpfungsakt, vermittelt durch die Klugheit der Zyniker, die ein Blutvergießen als dann doch zu unvornehm ansehen konnten. Durch die Kirchen als Speere, die klug vorbei gestochen hatten. Und durch eine Gesellschaft, die am Ende dann doch noch zu blühen angefangen wollte – wie eine Landschaft, die man lange für verbrannt hielt und die nun - überraschend - grün geworden ist. So oder so - man kann daraus lernen, wenn man lernen will!
Autor:Matthias Schollmeyer |
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