am 2. Oktober
SCHUTZENGELTAG

Zum Tag des persönlichen Schutzengels
Es gibt Feste im liturgischen Kalender, die wie freundliche Lichter aufscheinen, so anrührend – und zugleich tragen sie in sich die Schwere von Jahrtausenden. Das Fest der heiligen Schutzengel am 2. Oktober gehört zu jenen Tagen. Clemens X. führte es im Jahre 1670 für den großen Rest seiner Kirche ein, vor der Luther und Calvin sich ein großes Stück abgerissen hatten. Der 2. Oktober ist das Datum, das auf den ersten Blick einer jener barocken Einfälle sein könnte, mit denen man der frommen Einbildungskraft ein wenig Trost zu spenden dachte, während draußen Krieg, Pest und Hungersnot ihre bleierne Nachwirksamkeit immer noch ausbreiteten (Dreißigjähriger Krieg). Und doch steht hinter diesem besonderen Tag eine Geschichte, die weit zurückreicht – ins Griechentum, ins Alte Israel, in die frühchristliche Apologetik, in die Scholastik, schließlich in die spätbarocke Spiritualität und von dort aus bis hin in die esoterischen Buchhandlungen mit ihren Räucherstäbchenregalen.

1. Die antike Geburtsstunde des Schutzwesens
Sokrates sprach noch nicht von Engeln, aber von seinem "Daimonion", das ihm in entscheidenden Augenblicken warnend entgegentrat. Es war nicht ein Gott - und schon gar nicht DER Gott, sondern eine Art Beistand, eine innere Stimme, die im Gewissen aufleuchtete. Platon berichtet darüber in der „Apologie“ (31c–d), und seither wissen wir: Die Idee des persönlichen Begleiters ist eine alteuropäische Urvorstellung. Rom setzt die dann fort mit der Rede vom "Genius" – jenem Geiste, der die zeitliche Lebensbahn eines Menschen umfasst, wie ein unsichtbarer Schatten, der vom ersten Atemzug bis zum letzten Seufzer treu anwesend ist (vgl. Varro, De lingua Latina 6,5; Horaz, Epistulae 2,2,187).

2. Hebräische Traditionslinien
In den Schriften Israels erscheinen Engel nicht als dekorative Beigabe, um die Dramatik der Erzählung etwa schärfer zu machen, sondern als ernsthafte Vollzugsinstanzen göttlichen Handelns. Das Buch Daniel (10,13–21) weist den Engeln ganze Nationen zu – Michael als „Fürst“ Israels. Schon hier taucht die Gestalt des schützenden, kämpfenden Engels auf, der nicht nur Nachrichten überbringt, sondern bewahrt und verteidigt. Im Neuen Testament dann die entscheidende Stelle: „Ihre Engel im Himmel sehen stets das Angesicht meines Vaters“ (Mt 18,10) sagt Jesus. Mit diesem Satz öffnet sich eine anthropologische Großbehauptung: dass jeder Mensch in seiner Zartheit, ja Verletzlichkeit, einen Anwalt in der unsichtbaren Welt hat.

3. Mittelalterliche Einordnung
Thomas von Aquin formuliert dann in der Summa Theologiae (I, q. 113, a. 1): „Unicuique homini deputatur angelus ad custodiam“ – jedem Menschen ist ein Engel zur Bewachung zugeteilt. Diese nüchterne, fast bürokratisch klingende Sentenz aus dem 13. Jahrhundert zeigt, wie sehr der Engelgedanke bereits in eine kosmische Verwaltungsvorstellung eingepasst war. Pseudo-Dionysius Areopagita bereits hatte die Chöre der Engel beschrieben (De Coelesti Hierarchia), Aquin setzte sie systematisch fort. Es gibt hochstufige Mächte für die Weltordnung, und auch niedere Kategorien für die Individuen. Das Volk aber nahm das alles sehr wörtlich und wusste: Jedes Kind, jeder Mensch, sei er Bettler oder Fürst, besitzt einen Engel. Und so soll es bleiben, denn es wäre schön, wenn es so wäre!

4. Barockzeit und Spiritualismus
Es ist kein Zufall, dass Clemens X. das Fest 1670 in die Liturgie einfügte – ein Jahrhundert, in dem das Leben von Krieg, Gewalt und Unsicherheit zerfurcht worden ist. Der Engel, dieser „private Militionär des Himmels”, stand für die Verheißung, dass der Mensch trotz aller Verwüstung nicht nackt dem Schicksal ausgeliefert bleibt. Gleichzeitig erwachte um diese Zeit ein allgemeiner Spiritualismus, in dem Engel in Visionen, Tagebüchern und Briefen als Gesprächspartner erschienen – eine neue Subjektivierung des Engelmotivs fand also statt, weit entfernt von der scholastisch gelehrten Hierarchievorstellung vergangener Zeiten.

5. Moderne Transformationen
Die Romantik entdeckte den Engel als Symbol verlorener Ganzheit. Novalis sprach vom „Hüter des Geheimnisses“, Hölderlin von „Engeln, die uns führen“ (vgl. Novalis: Hymnen an die Nacht). Engel wurden poetische Stellvertreter in dem sonst metaphysisch leeren Vakuum.
Die besten Köpfe des 19. Jahrhundert rationalisierten sowieso alles irgendwie, doch das Volk behielt seine Kindergebete bei: „Engel, mein Begleiter…“ – ein Reim, der zugleich naive Versicherung und anthropologische Tiefenstruktur ist. In der Esoterik der Gegenwart schließlich erscheinen Engel als „Energieformen“, als „Lichtwesen“ oder als „innere Führungen“. Sie sind nicht verschwunden, sondern metamorphisiert. Und aus den theologischen Boten wurden an C.G. Jungs entsprechende Lehren angepasst engelhafte Archetypen, die von Anselm Grün dann später wieder in die weiten Volieren der christlichen Denke gelockt und eingefangen worden sind. Unüberbietbar bleiben Rilkes Dueniser Elegien, die als Texte immer wieder neue Räume dem eröffnen können, der in diesen Texten meditiert.

6. Theorie der Entstehung
Wenn man alle diese Überlieferungsstränge zusammenführt, ergibt sich eine ansprechende Theorie: Die Schutzengelvorstellung ist die anthropologische Ausdrucksform des Nicht-Alleinseins. Sie entstammt der Erfahrung, dass der Mensch verletzlich, ja ausgesetzt ist – und dass er, um nicht in untröstliche Verzweiflung zu geraten, eine imaginäre, theologische oder poetische Präsenz anrufen darf. Der Daimon des Sokrates, der Genius der Römer, der Engel im Danielbuch, der Kinderengel des Matthäus – sie alle sind Manifestationen eines Urbedürfnisses: begleitet zu sein und begleitet zu bleiben.

7. Moralisatio Carissimi!
Der 2. Oktober – der Tag des persönlichen Schutzengels – ist mithin nicht bloß eine barocke Erfindung, sondern die liturgische Spitze eines uralten Gedankens. In ihm begegnen sich Metaphysik und Psychologie, Dogma und Volksglaube, Kitsch und Theologie in fröhlich-ernster Choreographie. Man kann lächeln über Schlüsselanhänger mit Engelchen, über die kitschigen Postkarten mit Flügelwesen. Doch man müsste sich gleichzeitig fragen, ob nicht in all diesen harmlosen Symbolen ein anthropologisches Grundgeheimnis aufscheint: dass der Mensch – trotz aller Vernunft, trotz aller Wissenschaft – zutiefst überzeugt bleibt, nicht verlassen zu sein. Trotz aller Reformationen, Kirchenspaltungen, Neugründungen von Sekten und Konventikeln, trotz der breiten säkularen Vertrottelungsallee, auf die der Zeitgeist inzwischen unweigerlich geraten ist, bleibt es dabei: Sogar der mitteldeutsche Prolet aus dem ehemaligen Chemiedreieck Halle-Leipzig-Merseburg blieb irgendwie doch ein fromm-heidnischer Katholik - wenn man versteht, was damit gemeint sein könnte: „Aus diesem Urschleim will ich mir meine Kirche bauen. Immer wieder neu.” So denkt der Weltgeist im Geheimen. Und dass es die Schutzengel wirklich gibt - das soll hier noch einmal ausdrücklich behauptet werden!

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Quellenangaben
• Platon, Apologie 31c–d.
• Varro, De lingua Latina VI,5.
• Horaz, Epistulae II,2,187.
• Buch Daniel 10,13–21.
• Matthäus 18,10.
• Pseudo-Dionysius Areopagita, De Coelesti Hierarchia.
• Thomas von Aquin, Summa Theologiae I, q. 113, a. 1.
• Clemens X., Dekret zur Einführung des Festes der Schutzengel (1670).
• Novalis, Hymnen an die Nacht.
• Friedrich Hölderlin, Patmos.
• C. G. Jung, Archetypen und das kollektive Unbewusste.
• Anselm Grün, Engel – himmlische Begleiter.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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