Einheit
EIN - HEIT

Gleichnisse zum Thema der Einheit

Die unscheinbare Fotografie einer geöffneten Avocado kann, wenn man sich darauf einlässt, zu einem Gleichnis von erstaunlicher Tiefenschärfe werden. Wir sehen zwei Hälften derselben Frucht – doch sind sie nicht mehr gleich.

Die eine Hälfte ist leer. Nur die Schale ist geblieben, doch in ihr ruht der Kern, schwer, fest, widerständig. Die andere Hälfte trägt das Fleisch, jenes köstliche, nährende Material, das der Mensch genießen kann. Aber dort, wo einst der Kern war, gähnt nun eine Leere. Das Zentrum ist verloren, nur die Spur des Fehlenden bleibt. Ost und West?

In dieser Spannung lässt sich ein Bild unserer jüngeren Geschichte erkennen. Die „westliche Hälfte“ – wohlhabend, satt, mit Substanz – hat vieles, was nährte und trägt. Aber auch trügt. Denn sie hat ihre Mitte verloren. Wo früher das Fundament lag, das tragende Bewusstsein des Ursprungs, dort ist nun nur noch Erinnerung, eine Leerstelle.

Die „östliche Hälfte“ hingegen ist von Entbehrung gezeichnet, vielfach ausgehöhlt. Und doch: sie bewahrte den Kern. Jenen Ball, der schwer ist, unbeweglich, oft auch unbequem. Den Kern zu haben heißt, mit etwas zu leben, das nicht leicht verdaulich ist, das man nicht „verbrauchen“ kann. Es ist nicht Nahrung, sondern Erinnerung, Ursprung, Identität. Haltlos rollt der Kern in ausgeleerter Schale.  

Nun könnte man beide Hälften wieder zusammenlegen. Aber sie passen nicht. Die Schnittkanten haben sich verändert. Was einmal eins war, lässt sich nicht mechanisch restaurieren. Und doch eröffnet sich eine andere Möglichkeit: Man kann den Kern, der im Osten bewahrt wurde, in die leere Mulde des Westens legen. Und man kann diese Hälfte dann in die leere Schale legen, so dass eine doppelte Schale den Rest der Frucht mit Fleisch und Kern stabilisiert.

So entstünde keine ganze Frucht, keine perfekte Kugel. Aber es entsteht eine Hälfte, die beides trägt: den Kern und das Fleisch - in verstärkter Schale. Das zeigt, wie es einmal gewesen ist – und zugleich, wie es in neuer Gestalt weitergehen kann.

Dieses Bild lässt sich deuten: Einheit ist nicht die Rekonstruktion einer verlorenen Vollkommenheit. Sie ist ein neuer Anfang, in dem das eine das andere anders ergänzt. Der Osten bewahrt den Kern, sagen manche, die Erinnerung an das Unveräußerliche. Der Westen hat noch von der Substanz, die lange nährte und trug. Nur wenn beides zusammenkommt – Kern und Fleisch –, kann es weitergehen.

Das Foto der Avocado ist so, ohne es zu wollen, zu einem Symbolon geworden. Es zeigt: Vollkommenheit liegt nicht im ästhetischen Ganzen, sondern im lebendigen Zusammenspiel von Erinnerung und Substanz, von Kern und Fleisch. Und vielleicht dürfen wir darin einen Hinweis sehen, dass auch das scheinbar Missratene, das Unvollständige, eine Botschaft trägt – eine Botschaft, die auf sonderbare Weise über unsere politischen Kategorien hinausweist.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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