250. Geburtstag W. Turners
DAS INNERE BILD IM AUßEN

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Gewisse Berufungen ereilen den Menschen spät. Und sie tun es mit einer Art milder Gewalt, wie das Schicksal sie sich für seine höheren Schützlinge vorbehält – nicht mit jäher Macht, sondern mit einem weichen Nachdruck, einer stillen Autorität, der man sich nicht entziehen mag. So kam es, dass Wilhelm Maurice Hirschler, Emeritus der Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt auf dem ikonischen Lichtmaler der englischen Romantik, Joseph Mallord William Turner, mit zweiundsiebzig Jahren eine Einladung an die Sorbonne erhielt, um über eben diesen Turner eine Reihe von Gastvorträgen vor jungen Leuten zu halten.
Es war Frühsommer, und Paris lag heute trotzdem unter einem Himmel von leicht modulierter Melancholie, bleigrau und mit einem Hauch von Altgold, als wolle er selbst eine Hommage an Turners Spätwerk sein. Hirschler reiste mit der Bahn an – eine Reise, die er, altmodisch und empfindsam, als eine Art feierliches Übergangsritual begriff. Die Vorfreude mischte sich mit jener feinen, bittersüßen Melancholie, die ältere Herren von Bildung und Bildungsliebe befallen kann, wenn sie, bepackt mit Manuskriptmappen und altgewohnten Denkfiguren, in eine neue, ihnen gleichwohl nicht mehr ganz geheure Welt aufbrechen.
In einem der nördlichen Banlieues, wo sich das Paris der zarten Dämmerungen mit dem der realsozialen Nachkriegsmoderne verbindet, bezog Hirschler eine Mansarde – eine solche, wie sie für ihn immer schon das eigentlich Pariserische verkörpert hatte: schräg im Dach gelegen, mit knarzenden Dielen und einer Aussicht, die, sobald sich das Fenster öffnete, nicht weniger als die ganze Stadt in einer silbrigen, geräuschgedämpften Totalität offenbarte.
Die Nacht verging, und der Morgen dämmerte, jener erste, der noch nicht Gewohnheit ist, sondern Versprechen. Hirschler kleidete sich sorgfältig, band die Krawatte mit dem Knoten, den er zeitlebens bevorzugt hatte – den von seinem Vater erlernten, als ob die Wahrheit der Argumente an der Eleganz der Schlaufe hänge. Dann machte er sich auf den Weg zur Sorbonne.
Er betrat den Hörsaal mit jener feierlichen Zögerlichkeit, die zwischen Demut und Würde pendelt, ja, fast möchte man sagen: ein Schreiten wie das eines Priesters an die Stätte des Kultus. Doch der Saal war leer. Ganz leer – mit Ausnahme einer alten, zierlich gekleideten Dame, die auf einem der vorderen Klappsitze saß, das Kollegheft aufgeschlagen, den Bleistift in der Hand, und ihm ein freundliches, fast entschuldigendes Lächeln zuwarf, das sich sogleich in eine gewisse Verschmitztheit wandelte, wie sie alten Menschen zu eigen ist, die wissen, dass die Zeiten sich wandeln und die Berufungen sich verspäten.
„Sie sind der Herr Professor?“, fragte sie auf Deutsch mit leichtem Akzent, einer Stimme, die wie aus der Tiefe des 19. Jahrhunderts klang.
„Ich bin’s“, sagte Hirschler, die Mappe mit den Notizen noch unterm Arm. „Und Sie sind … die einzige Hörerin?“
„Vorerst“, meinte sie. Und sie lachte mit einer Stimme, die das Papier zum Knistern brachte.
Was dann geschah, ist von einer Art, wie sie das gemeine Leben nur dem Träumenden oder dem Schriftsteller zubilligt. Die Dame, die sich als Madame Béatrice-Madeleine Turner de La Roque vorstellte – „Ururenkelin, wenn Sie so wollen“ –, holte aus einer ledernen Mappe ein Bild, eine Sepiazeichnung mit jenen eigentümlich verdunstenden Konturen, jenen Lichträumen, in denen sich Himmel und Erde verflüchtigen. Sie reichte es ihm, so einfach wie ein Rezept für Hühnersuppe.
„Ein echter Turner“, sagte sie, als sei das nichts. „Er ist lange bei uns geblieben. Aber nun ist er besser bei Ihnen.“
Hirschler wusste in diesem Moment nicht, ob er träumte oder bereits starb, ob er lächeln oder weinen solle. Er nahm das Blatt, er betrachtete es – und er erkannte: Es war Paris. Genauer: sein Paris, das von seinem Fenster aus. Die Silhouette stimmte auf geheimnisvolle Weise mit dem Ausblick seiner Mansarde überein. Der Himmel in der Zeichnung war derselbe wie der über den Schornsteinen von Saint-Denis.
Er hob den Blick – doch Madame Béatrice war verschwunden.
Am Abend kehrte er in die Mansarde zurück. Er legte das Bild auf den Tisch, trat ans Fenster und versuchte zu fassen, was sich nicht fassen ließ. Dann, weil er ein Mann des Denkens war, begann er zu schreiben – einen Essay über den Zufall im Allgemeinen und Besonderen, eine Meditation über das Schicksal, die Konvergenz der Formen und die merkwürdige Art, wie sich Geschichte in der Gestalt einer alten Dame zu manifestieren vermag.
Doch in jener Nacht träumte er – und der Traum war ein Alp. Er sah sich selbst, wie er das Bild – das Geschenk! – in einer pompösen Auktion versteigern ließ. Der Hammer fiel bei dreieinhalb Millionen Franken. Die Höchstbietende? Die alte Dame – nur verjüngt um ein Jahrhundert, in Champagnerfarbe gekleidet, mit einem Lächeln wie aus der Comédie Française.
Er erwachte, schweißgebadet. Er wollte das Bild aufrufen, es betrachten, es mit zitternden Fingern erneut ergreifen. Doch es war nicht mehr da. An seiner Stelle lag eine alte Zeitung – aufgeschlagen auf eine verwaschene Abbildung der Stadt Halle an der Saale, seiner Geburtsstadt. Die Überschrift lautete: „Sonniger Blick vom Reilsberg“.
Mit einem sonderbaren Ernst kleidete sich Hirschler erneut, nahm seine Mappe und ging zur Universität. Der Hörsaal war brechend voll – junge Menschen, neugierig, erwartungsvoll, aufgeweckt vom Gerücht eines großen Gelehrten.
Nur eine fehlte.
Madame Béatrice-Madeleine Turner de La Roque – das alte Mütterchen – blieb aus. Doch in seiner Mappe, ganz unten, zwischen den Manuskriptseiten, fand Hirschler ein einzelnes, herausgerissenes Blatt. Darauf in zitternder Handschrift, mit violetter Tinte:
„Das Bild bleibt – in Ihnen.“
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die Geschichte stammt von ChatGPT 4.0
Autor:Matthias Schollmeyer |
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