die letzten Augusttage
Als Nest des Geistes

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Das Nest der letzten Augusttage ...
Besondere Kalenderwochen. Es gibt sie. Als stille Depots menschlich besonderer Schicksale. Dort ist gut sein. Auch besonders die Zeit vom 25. bis 28. August ist gemeint. Hier bildete sich sozusagen ein Nest, in dem sich große Geister mit ihren Jubiläen zusammenkauern wie Vögel, welche vor dem herbstlichen Abflug gen Süden noch einmal sorgsam die Schwungfedern ordnen. Herder, Hegel, Goethe, Nietzsche – und, fast wie ein ironischer Nachsatz der Weltgeschichte, auch Mutter Teresa. Ein stolzes Panoptikum, das von der deutschen Klassik bis zur globalen Caritas reicht. Ludwig II. - der Bayernkönig, dem wir Neuschwanstein zu verdanken haben, samt der Finanzierung des Wagnerschen Rings. Den dürfen wir ebenfalls nicht vergessen ...
„Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.“ Auch der bekannte Vers Rainer Marias spricht zu uns in diesen Tagen. Der August endet nicht sang und klanglos, nein, nein - er macht vorher Inventur. Er legt die Schatten auf die Sonnenuhren, er bläst den ersten Wind über die Fluren. Es ist die Stunde, in der die Biographien selbst wie Jahreszeiten erscheinen: Goethe als der Sommer, übervoll und maßlos schöpferisch; Nietzsche als der stürmische Übergang, der plötzlich abbricht; Hegel als der Herbstdenker, der alles Fallen und Reifen in ein System der Aufhebung einsortiert und nichts verloren gehen lässt.
Nietzsche starb am 25. August 1900 in Weimar. Man könnte fragen: War da ein Pfarrer, ein Prediger, ein Wort aus den Psalmen zu hören auf dem Naumburger Friedhof? Man weiß, dass seine Schwester Elisabeth die Zeremonie organisierte. Sie sorgte für die bürgerliche Korrektheit des Abschieds. Aber man darf vermuten, dass Nietzsche auch im Tod weitgehend sich selbst überlassen blieb. Ein Mann, der das Christentum zerschlagen wollte und doch wie ein Mystiker klang, wenn er von Ewigkeit und Wiederkunft sprach. War er nicht, in einem paradoxen Sinn, ein frommer Mann? Einer, der sich im Ringkampf mit Gott so tief verstrickte, dass er bis heute unversehens in die Nähe Jakob/Israels geraten ist?
Hegel hätte hier gelächelt – ein Lächeln, das Spott und Anerkennung zugleich war. Für ihn war Spott die ironische Vorstufe zur Vergöttlichung. Wer wie Nietzsche alles verneinte, war im Grunde schon unterwegs zur höheren Bejahung. In der Dialektik des Geistes ist das Nein nur der Umweg zum Ja. „Der verlorene Sohn“, so hätte Hegel gemurmelt, „hat sich etwas weit verlaufen, sehr weit sogar - aber er wird zurückfinden. Wenn vielleicht auch erst im absoluten Geist.“
Herder, der am Sterbetag Nietzsches (25. August) Geburtstag feiert, bringt noch eine andere Note hinein. Er ist einer der frühen Sänger gönnerhafter Humanität, ein Lehrer von Sprachbildern und Seelsorger spätromantischer Empfindsamkeit. Neben Hegel wirkt er wie ein großer Bruder, der die Melodie vorprägt, die später der Philosoph in Berlin zu ungebremster Systemmusik anschwellen ließ. Goethe schließlich, der am 28. August (am Begräbnistag Nietzsches) Geburtstagsglückwünsche entgegen nimmt, thront über allem. Er ist der Sonnenkönig, dessen Werk wie ein unerschöpflicher Stern in tausendfältigen Eruptionen seine strahlenden Energien verschleudernd vergeudet. Goethe steht für einen Sommer, der sich weigert zu vergehen, auch wenn die Schatten länger werden.
Und dann noch - nicht zu vergessen - Mutter Teresa. Die späte, katholische Fußnote allergrößter Barmherzigkeit. Sie ruft uns zu: Nicht nur Geist, auch Barmherzigkeit hat ihre Daten im Festkalender des Jahres. Dialektik allein ist zu trocken. Die Hände müssen den Armen dienen, nicht nur der Kopf den Begriffen.
So liegt in diesem „Nest der letzten Augusttage” ein merkwürdiges Gleichgewicht: Pathos und Predigt, Dialektik und Barmherzigkeit, Sonne und Schatten. Wir verabschieden den Sommer, aber wir verabschieden uns nicht von der Fülle. Hegel würde sagen: "Das Ganze bleibt." Und der alte Ratzingerpapst würde hinzufügen: "Du bleibst, weil alles Nein von einem größeren Ja getragen ist, das hinter den Widersprüchen waltet."
Und wir, die wir diese Tage bedenken, stehen dabei auf einer besonderen und irgendwie höheren Schwelle. Wir hören Hegels weltgeistreichen Spott, wir schauen auf Nietzsches Grab in Röcken, wir feiern Goethes mittägliche Geburt und staunen über die gute Mutter Teresa in Kalkutta. Das ist eine sehr anspruchsvolle Lektion, die da in dem täglich milder werdenden Augustlicht uns präsentiert wird: Der Sommer des Geistes war sehr groß. Unser Geist darf sich davon bescheinen lassen.
Autor:Matthias Schollmeyer |
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