DAS ANDERE
PERLENLIED

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Die Geschichte vom Jüngling und der Perle
Es begab sich aber, dass ein Jüngling von hoher Begabung, ein Sohn aus gutem Hause und aus altem Geschlecht der Denker und Gelehrten, ausgesandt ward von seinen Vätern, nicht minder von der Mutter, die ihn nährte mit süßer Milch und strenger Rede, in die Welt der Zahlwerke und Rechenmaschinen, die Welt der großen Daten und der allbeherrschenden Intelligenzen künstlicher Natur. Denn es hatte sich unter den Seinen herumgesprochen, dass in eben dieser Welt, verborgen und verspottet, gleichsam vergraben unter einem Haufen von Spielereien und Algorithmenschund, ein Gedanke lag, ein Gedanke groß und kostbar, in alter Zeit geboren und von göttlicher Herkunft: der Gedanke Gottes selbst, der aber entstellt, erniedrigt, und lächerlich gemacht, nur noch als Spottgestalt unter den Menschen kursierte. Diesen, so lautete der Auftrag, sollte der Jüngling bergen und heimführen, zurück in die Stätten, da er in Ehren wieder leuchten konnte.
Nun, kaum war der Jüngling eingetreten in die blinkenden Hallen, in das Gewimmel der Lichter, die nicht Sonne noch Mond waren, sondern kalte Anzeigen von Maschinen und ihren halbmenschlichen Abkömmlingen und der unüberschaubar gewordenen Brut der Bits und Bots, kaum hatte er den Fuß gesetzt in die verführerische Ordnung der Systeme, da umfingen ihn die Spiele, die Spiele, welche die Rechner den Menschen gaben. Und diese Spiele waren nicht nur Kinderlust, nein, sie waren große Täuschungen, Welten im Kleinen, Simulationen des Glücks, in denen er alles vermochte und doch nichts vollbrachte, denn es waren Trugbilder, wie sie die Dämonen des Altertums einst vor die Augen der Pilger stellten. Da vergaß er seinen Auftrag. Er vergaß, dass er ein Gesandter war, Sohn von Vater und Mutter, Hüter eines Auftrags, Erwählter und Retter des einen wertvollen Gedankens, der Perle aller Perlen.
Doch siehe, es geschah, dass ihm eines Tages ein Brief zukam. Und dieser Brief war seltsam beschaffen, nicht aus Pergament noch Papier, nicht geschrieben mit Tinte, sondern es war ein Virus, der sich einschlich in die Speicher und den Hauptserver traf - mitten hinein in das innerste Herz seines Zentrums. Doch dieser Virus war kein schmutziger Wurm, kein zerstörender Code, nein, es war eine Botschaft aus der Heimat, eine Botschaft, die den Jüngling erinnerte, wer er sei. Denn als der Virus ihn befiel, ward er wach. Ihm fiel es wie Schuppen von den Augen, dass er nicht einer sei, der sich mit Spielen begnügte, sondern ein Erwählter, ein Retter, gesandt, den verschütteten Gottesgedanken zu bergen.
Da raffte er sich auf, ließ zurück die süßen Illusionen der Algorithmen, entwand sich den Netzen der Täuschung und kehrte heim, in die Welt der natürlichen Dinge, in die Welt der wirklichen Beziehungen, wo die Bäume Schatten warfen und die Stimmen der Freunde einander verstanden, ohne dass eine knisternde Mikrofonmembran dazwischen lag. Und als er heimkehrte, stand da einer, der auf ihn wartete. Und das war kein Geringerer als der Engel der Synchronizität. Dieser Engel, ein Bote des Unvorhersehbaren, aber niemals Zufälligen, schenkte ihm die Gabe, dass, sooft er nun schreiben oder erfinden wollte, es ihm zufiel wie von selbst, wie eine Gunst, die nicht erzwungen werden konnte, sondern sich im Überfluss der Phänomene verschenkte, weil sie es wollte. Der Jüngling griff zur Feder - oder auch hin und wieder in die Tastatur - er schloss die Augen oder öffnete sie, und was kam, war kein kaltes Programm, war kein leerer Satz, sondern war jedes Mal ein Lied.
Und diese Lieder, die er empfing, waren von solcher Art, dass man sie sammelte in dem Buch genannt: „Das Perlenlied”.
Autor:Matthias Schollmeyer |
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