„Ich bin es nicht selbst – aber ich weiß davon“
Erwählung, Bewertung und die Würde des Dabeiseins

Die Frage nach dem Höchsten – sie begleitet uns seit der Zeit unserer ersten Kinderspiele und Turnstunden. Wer ist der Beste? Was ist das Schönste? Wer steht an der Spitze? In Märchen wie in Mythen ist diese Frage ein zentrales Motiv. Die böse Königin fragt den Spiegel nicht nach dem Guten und Wahren, sondern nach dem Höchsten in Form des Schönsten – und entzündet damit die Tragödie um Schneewittchen. Schon diese literarische Miniatur zeigt: Die Sehnsucht nach dem Höchsten ist nicht neutral, sie ist – wenn absolut gesetzt – zerstörerisch.

Ein Schriftgelehrter fragt Jesus: „Meister, welches ist das höchste Gebot?“ (Mt 22,36). Die Frage ist klug gestellt. Denn wer das Höchste kennt, kann alles andere danach ordnen. Doch Jesus antwortet auf diese Rangfrage mit einem anderen Prinzip. Er stellt das Ganze in die Verhältnismäßigkeit einer Beziehung: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, zwar lieben mit aller deiner Kraft - aber deinen Nächsten auch wie dich selbst.“ (Mt 22,37–39). Zwei Gebote – und eines. Kein erstes und zweites, kein besseres und schlechteres. Eine Struktur der Gleichzeitigkeit, nicht der Überbietung.

Hier bricht bereits auf, was sich durch das ganze Evangelium zieht: Der Wille zur Hierarchie des Höheren und Niedrigen wird nicht bestätigt, sondern verwandelt. Erwählung – das große Wort Israels – wird nicht abgeschafft, aber neu gefasst. Nicht im Sinn exklusiver Auszeichnung, sondern im Sinn exemplarischer Beziehung: Das Erwählte steht für das Ganze. Es trägt eine Aufgabe, keinen Status.

Viele wollen die Erwählten sein. Kaum einer aber will das Los des Erwählten tragen. Erwählung bedeutet: Wachheit, Verzicht, Anfechtung, Nicht-Wissen-Dürfen und immer im Neid-der Anderen-Sein. Die Geschichte Israels wird zwar als Geschichte der Treue Gottes erzählt – aber auch  als Geschichte der menschlichen Mühe, dieser theoretisch angenommenen und geglaubten Treue nun auch zu entsprechen. Das ist weniger ein ruhiger Ehrenplatz. Es ist viel mehr eine Sendung in das absolut Ungewisse und Offene.

Es täte gut, wie Jesus es tut, den Begriff des „Höchsten“ zu entschärfen. Dieser Begriff hat nämlich auch etwas Zwanghaftes. Wer das Höchste sucht, denkt zwangsläufig das Niedrigste immer mit. Wo das eine emporsteigt, muss das andere absinken. So funktioniert jeder Wettbewerb. So funktionieren Schulnoten, Rankings, Medaillen. Aber das Evangelium ist kein olympischer Katalog. Es kennt in letzter Konsequenz eigentlich keine Siegerpodeste. Ein Seitenblick auf unsere Bewertungssysteme macht viel deutlich … Die Schule, das Sportstadion, die Casting-Show, ja sogar die spirituelle Welt der Orden und Ämter: alles durchwirkt vom Geist des Rankings. Wer wird gelobt? Wer bekommt die Medaille? Wer erhält die beste Note? Und unbemerkt wächst die Angst der Vielen, nicht genug zu sein. Doch diese Angst ist nicht Folge persönlicher Schwäche, sondern struktureller Versuchung: der Versuchung, das Leben als olympisches Spiel zu sehen, bei dem am Ende nur einer auf dem Siegerpodest steht – und selbst der weiß nicht, wohin mit sich.

Das Evangelium Jesu ist das Ende der Medaillenlogik. Es sagt: Du musst nicht der Erste sein. Du darfst dabei sein. Das ist nicht wenig – das ist das Ganze.

Stattdessen spricht Jesus von einem Reich, in dem der Letzte der Erste ist, der Kleinste der Größte. Und dieses Paradox ist nicht rhetorischer Effekt, sondern theologische Wahrheit. Die wahren Erwählten stehen nicht auf Bühnen, sondern an Pforten von dieser zu jener Welt. Maria in Nazareth, Zachäus auf dem Baum, der Kreuzträger Simon von Kyrene am Rand der Straße.

Auch wir möchten da vielleicht mit dazugehören? Aber ohne das Kreuz. Wir möchten gemeint sein – aber nicht gerufen werden. Wir möchten Licht – ohne anstrengende Hitze. Gott ruft uns nicht in die Kategorien des Höchsten. Er ruft in normale Beziehungen. Wer also glaubt, nicht erwählt zu sein – der irrt vielleicht. Und wer glaubt, erwählt zu sein – auch.

Denn die eigentliche Würde liegt nicht in der Erwählung, sondern im Wissen. Nicht im „Ich bin es“, sondern im „Ich weiß davon“. Die Geschichte des Heils braucht keine Hauptrollen. Sie braucht Zeugen. Und Zeugen müssen nicht im Zentrum stehen – sie müssen nur sehen und sich an das Gesehene und Gehörte erinnern können - oder sich gern daran erinnern lassen..

Ein Mensch, der auf halber Höhe eines Berges sich niedergelassen hat, Schaut sowohl hinab ins Tal als auch hinauf zum Gipfel. Er steht vielleicht nie auf der Nadelspitze des höchsten Zieles (wie auf dem obigen Bild) – aber er ist bei der Mitte abgekommen und sieht unter sich den festen Grund als Bergmassiv. Er trägt nicht den Titel des Weltenerstürmers – aber er ist auf dem Weg gewesen und versteht das als völlig ausreichend. Das ist das Verständnis, um das es geht. Und vielleicht ist das auch das Kostbarste. Aber schon wieder schleicht sich hier der Gedanke ein, dass es etwas Kostbarstes geben müssen muss ... Irrsinn!

Ich muss nicht der Erste sein. Ich muss nicht der Erwählte sein. Ich bin es nicht selbst – aber ich weiß davon. Ich muss es nicht gewesen sein – aber ich gehöre dazu. Ich bin nicht der Stern – aber ich gehöre zum Himmel. Ich habe keine Medaille – aber ich kenne den Lauf. Ich war nicht dabei – aber ich weiß davon. Ich liebe es, ohne es besitzen zu wollen. Und wenn am Ende einer fragt, was das alles bedeutet, dann genügt vielleicht dieser eine Satz:„Du bist nicht das Höchste. Aber du bist gemeint.“

Autor:

Matthias Schollmeyer

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