Krankheit als Steigerung
Wunder aus Verlegenheit

- Barbara mit dem Turm / Margarete mit dem Wurm / Katharina mit dem Radl / das sind die heiligen drei Madl
- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Es ist ein Irrtum unserer spätmodernen Ratio, dass sie meint, die Wahrheit sei an die Faktizität so gebunden, wie das Auge an die Netzhaut. Das, was wahr ist, so glaubt sie, sei identisch mit dem, was geschah. Und was nicht geschehen sei, könne auch nicht wahr sein. Diesen Irrtum freilich pflegt die alte Kirche mit dem Gleichmut einer Jahrtausende alten Matrone zu belächeln – nicht aus Arroganz, sondern aus einer Art wissender Milde. Denn sie kennt das Andere der Geschichte, das, was nie geschah und doch immer wieder geschieht: die heilige Geschichte. Die Formulierung „Allein was nie geschehen ist, ist wahr“ ist ein berühmter paradoxaler Satz, der mit Friedrich Hölderlin in Verbindung gebracht wird und die prägnanteste Quelle, die dieser Aussage sehr nahekommt, stammt aus seinem Drama „Der Tod des Empedokles“. Dort heißt es sinngemäß: „Was nie geschah, das allein altert nicht.“ Oder in einer anderen Passage: „Das nie Geschehene ist das wahrhaft Wirkliche.“
In einem merkwürdig anmutenden Reliquienkabinett, wie es sich gleichsam aus Kirchen und Kapellen der europäischen Kulturgeschichte hervorschiebt – feierlich, aber nicht ohne einen eigentümlichen Schauer –, versammeln sich Gestalten, die, bei Lichte besehen, aus der Feder eines spätantiken Fabulisten zu stammen scheinen: Achatius etwa mit dem Pfeil in der Brust, Eustachius, dem ein Hirsch das Kreuz zeigt, Dionysius, der sein eigenes Haupt durch die Straßen von Paris trägt wie ein Büßer sein Bekenntnis. Und die sogenannten Vierzehn Nothelfer – was erst ist das für ein seltsam anmutendes Ensemble. Man möchte sie beinahe für die Glieder einer allegorischen Oper halten, für die Hauptfiguren eines liturgischen Theaters, das zugleich barock und apokalyptisch, volkstümlich und metaphysisch ist.
Dass ihre Geschichten – man mag es einräumen – nicht historisch im üblichen Sinn „geschehen“ sind, gereicht ihnen nicht zum Makel, sondern zum Adel. Denn es sind, wie Thomas Mann einst ähnlich über die Krankheit sagte, „Steigerungen der Normalität“. Es sind Steigerungen des Lebens selbst – gleichnishafte Gebilde, aus der Substanz des Wunders gewoben, das nicht dem Kalender unterliegt, sondern dem Hunger des Herzens.
Die Formulierung „Steigerungen der Normalität“ in Bezug auf Krankheit und Heilung, für die manche der Heiligen verantwortlich sind, ist in den Werken Thomas Manns zwar nicht als direktes Zitat nachweisbar. Allerdings spiegelt diese Wendung treffend die von Mann häufig thematisierte Idee wider, dass Krankheit nicht bloß als Defizit, sondern als intensivere Form des Daseins verstanden werden kann. Im „Zauberberg“ etwa wird die Krankheit als Zustand höherer Lebendigkeit dargestellt. Hans Castorp, die Hauptfigur, erlebt durch seine Krankheit eine tiefere Auseinandersetzung mit Leben, Tod und Zeit. In einem Gespräch mit Madame Chauchat äußert er sinngemäß, dass es zwei Wege zum Leben gäbe: einen direkten, gewöhnlichen und einen anderen, der über den Tod führe – letzterer sei der geniale Weg. Diese Sichtweise legt nahe, dass zumindest in Romanen Krankheit als Mittel zur existenziellen Vertiefung und Erkenntnis dienen können. Auch im „Doktor Faustus” wird diese Thematik aufgegriffen. Der Protagonist Adrian Leverkühn erlangt seine musikalische Genialität durch eine Syphilis-Infektion, was die Verbindung von Krankheit und künstlerischer Inspiration verdeutlicht. Thomas Mann reflektiert hier die Idee, dass Krankheit nicht nur Leiden bedeutet, sondern auch eine Quelle kreativer Kraft sein kann. In seinen Essays, insbesondere in „Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung“, diskutiert Mann die Rolle von Krankheit im Leben und Werk Friedrich Nietzsches. Er beschreibt Nietzsches Genie als untrennbar mit seiner Krankheit verbunden, was die Vorstellung unterstützt, dass Krankheit eine Form der Intensivierung des Lebens darstellt.
Es lässt sich also schon mit einer gewissen Berechtigung behaupten, dass die Phrase „Steigerungen der Normalität“ als prägnante Zusammenfassung solcher Phänomene angebracht ist, die eine Besonderheit des Charakters mit dem Leiden, dem inneren Martyrium oder der von außen aufgedrückten Qual konstatieren und beschreiben - ja sogar zu empfehlen scheinen.
Die Heiligenlegenden sind somit weniger Kapitel der Historiographie als solche des besonderen Hin-Sehnens. Das Sehnen nämlich, dass es anders sein möge, dass es gut ausgehe, dass es doch noch einen Eingriff gebe – nicht von oben, sondern von tiefer her: aus dem mystischen Grund, den man am Ende aller Wirkketten nur Gott nennen kann.
Joseph Ratzinger hat in seiner „Einführung in das Christentum” mit bewundernswerter Klarheit auf einen verwandten Zusammenhang hingewiesen, der uns heute fremd zu werden droht: dass nämlich der Mythos nicht der Gegensatz der Wahrheit sei, sondern ihre symbolische Austragungsform. Der Mythos hebt nicht das Faktum auf, sondern hebt es an – zu einem Ort, an dem das Reale sich durch das Mögliche durchleuchten lässt. So ist zum Beispiel die Geschichte des Heiligen Christophorus – der das Christuskind durch den Fluss trägt und unter der Last fast zusammenbricht – keine Beschreibung eines historischen Ereignisses, sondern die kristalline Form eines geistlichen Gesetzes: Wer das Kleine auf sich nimmt, trägt das Ganze. Wer das Leichte hebt, hebt in Wahrheit das Gewicht der Welt.
In diesem Sinne ist jede Heiligenlegende eine Art Verdichtung des Lebens in die Möglichkeit des Wunderbaren. Die Analogien zum Alltag sind nicht zufällig, sondern absichtlich schief – wie die Perspektive in einem spätmittelalterlichen Tafelbild oder noch mehr in den Ikonen. Man erkennt, dass das Haus ein Haus ist, aber es ist nicht ganz so gemalt, wie ein Haus gewöhnlich ist. Es ist geöffnet auf das Transzendente hin, das manchmal mit dem Betrachter des Bildes verschmilzt. Die Geschichte vom heiligen Vitus etwa, der in einem Kessel mit siedendem Öl tanzte, ohne zu sterben, ist keine Physiologie des Martyriums, sondern eine Eschatologie (letzte Lehre) vom Leib: Dass es Leiber geben wird – und vielleicht gibt –, die von innen her unverbrennbar sind, weil sie schon von einer ganz anderen Glut genährt werden, das ist gemeint.
In der Welt der heiligen Geschichten – und wir sprechen hier nicht von den substanzlosen „Inspirationsmärchen“ spätmodernen Zuschnitts, sondern von den rissigen, flackernden, manchmal fast grotesken Legenden der Spätantike und des Hochmittelalters – tritt das Wunder nicht als Spektakel auf, sondern als Verlegenheit. Das Wunder ist eine Irritation im Gewebe des Gewohnten. Es bezeugt nicht den Gott ex machina, sondern das Andere im Innersten der bekannten „Welt-Maschine” oder ihren Exzenter.
Das heilige Erzählen der Berichte aus der Legenda Aurea z.B. ist also nicht didaktisch, sondern liturgisch. Es will nicht belehren, sondern entzünden – das Herz, das Gemüt, das Gedächtnis.
Die Formulierung, dass „das Wunder nicht als Spektakel auftrete, sondern als Verlegenheit erscheine“ beschreibt das Wunder als subtil und unerwartet - und im Gegensatz zu einem auffälligen, dramatischen Ereignis.
Solche Perspektiven erinnern natürlich sofort an die Gedanken Rudolf Ottos, der in seinem Werk das Heilige als „Mysterium tremendum et fascinans“ beschreibt – das Heilige als etwas, das Ehrfurcht und Faszination zugleich hervorruft, oft in stiller, unerwarteter Weise. Auch in der Bibel finden sich Beispiele, in denen Wunder in alltäglichen Situationen geschehen, ohne großes Aufsehen zu erregen, wie etwa die Verwandlung von Wasser in Wein bei der Hochzeit zu Kana (Johannes 2,1–11).
Die Idee, dass Wunder nicht als Spektakel, sondern in der „Verlegenheit“ oder im Unerwarteten auftreten, passt zu einer theologischen Sichtweise, die das Wunder als eine subtile Offenbarung des Göttlichen im Alltäglichen versteht. Diese Interpretation betont die persönliche und transformative Erfahrung des Wunders, die nicht notwendigerweise mit äußeren, dramatischen Zeichen einhergeht.
Was dabei auffällt, ist eine Form von Möglichkeit, die sich selbst nicht beweist, aber offenbart – in Bildern, Gleichnissen, Figuren und Synchronizitäten. Und je sonderbarer diese sind, desto tiefer rühren sie an jenes Bedürfnis des Menschen, welches man als das Bedürfnis nach dem Heiligen bezeichnen könnte: nach dem Einbruch des Ungewöhnlichen in das Normale, des Gnadenvollen in das Geregelte, des Irrealen ins Konkrete. Die Geschichte der Vierzehn Nothelfer ist also nicht eine Geschichte über sie, sondern ein Appell an das Herz, sich auf jene Möglichkeiten, von denen sie künden, tatsächlich einzulassen. Dass das Wunder geschehen könnte – nicht damals, sondern jetzt. Nicht im fernen Kappadokien, sondern nun in je mir.
Der Mensch, so hat es Paul Tillich sinngemäß einmal gesagt, sei ein Wesen, das Geschichten braucht, um sich an das Eigentliche zu erinnern. Die heiligen Geschichten, welche erzählt werden, sind aber keine Beweise für die Macht Gottes, sondern Spuren seiner Nähe. Und ob sie geschehen sind oder nicht, ist eine Frage, die der Glaubende mit einem Lächeln abtut – nicht aus Arroganz, sondern aus Vertrauen. Denn er weiß: Die Wahrheit ist größer als das Faktum. Und das Wunder ist nicht der Bruch mit der Welt, sondern ihr geheimes Maß.


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