Gottes Wort – unantastbar

Glaubenskurs zur Theologie Martin Luthers: »Sola scriptura« – allein durch die Schrift

Von Ulrich Schacht

Im Fragebogen der April-Ausgabe des Magazins der Frankfurter Allgemeinen Zeitung antwortet die ungarische Schauspielerin Dorka Gryllus, die zwischen Berlin und Budapest pendelt, auf die Frage, welches Buch sie am meisten beeindruckt habe: »Die Bibel«.
Ihre Erläuterung, warum das so ist, könnte klarer und einfacher nicht sein: »Ich komme aus einer protestantischen Familie, in der Religion sehr wichtig ist. Wahrscheinlich war es das erste Buch, das ich als Kind bekommen habe.« Die Schauspielerin, die auch Theologie studiert hat, teilt schließlich mit: »Meine Bibel liegt auf dem Nachttisch.«
Mit ihrer Antwort, ein halbes Jahrtausend nach dem Beginn der Reformation, hat die Ungarin nicht nur ein Bekenntnis als Christin abgelegt; in einer Zeit, die vom christlichen Glauben als normsetzender Wahrheit für Mensch und Geschichte kaum noch
etwas wissen will, hat sie sich als eine im fundamentalen Sinne praktizierende Protestantin erwiesen, praktizierend in der Spur des Hauptreformators selbst, der als Professor in Wittenberg mit der ihm eigenen Intensität metaphorischen Sprechens bekannte: »Was dem Vieh die Weide, dem Vogel ein Nest, den Gemsen ein Fels und den Fischen der Strom ist, das ist die Heilige Schrift den gläubigen Seelen.« Bis in die Erfurter Studentenjahre, weiß Luther sich später zu erinnern, noch vor seinem Eintritt ins Kloster der Augustinereremiten, stößt er in der Bibliothek der Universität oder seiner Burse auf eine Bibel, angekettet am Lesepult, und kommt nicht mehr los von den darin entdeckten Geschichten. Die Lektürebegeisterung kulminiert in dem Wunsch, eine solche Bibel auch einmal zu besitzen, sie studieren, ja, existentiell ausschöpfen zu können. Noch im Jahr seines Magisterexamens, 1505, wird sein Wunsch zur eigenen Überraschung, die als eine vom Himmel ausgehende Überwältigung erfahren wird, radikal erfüllt: Er wird Mönch, studiert Theologie, wird Priester und übernimmt im Oktober 1512 eine Professur der Bibelwissenschaft. Gegenstand seiner ersten Vorlesung sind die Psalmen.
Was dem Studenten der Artistenfakultät der Erfurter Universität aus reiner Neugier unter die Augen kam, die Bibel, das Buch der Bücher, erweist sich dem Mönch und Theologieprofessor Martin Luther alsbald als das entscheidende, das einzige Erkenntnisprinzip der Theologie schlechthin: »unica regula et norma«.
Luthers Schriftprinzip, von dem allein her Kirche und Glauben ihre Maßstäbe empfangen, nicht aber von konziliarer Tradition und anderem irrtumsanfälligen menschlichen Gedankenwerk, wie beispielsweise der Philosophie des Aristoteles oder Vernunftillusionen von Humanisten wie Erasmus von Rotterdam, – dieses »sola scriptura« ist für ihn, den Zuspitzer im Kampf gegen das römische Papsttum und seine zeitgeistigen und machtorientierten Auslegungsexzesse, als Offenbarungswort schließlich sogar Gott selbst: unantastbar, sich selbst auslegend, unhintergehbare Norm des Glaubens. Gottes Wort ist Gotteswort: Es ist »dasselbe Wort«, »das Gott von Ewigkeit her ist, durch das er die Welt erschaffen hat und erhält, das in Christus Fleisch geworden ist (Johannes 1,14) und durch das er mich in der Predigt lehren und trösten und im Sterben bewahren will« (Albrecht Beutel). Hier treffen der Johannesprolog und das erste Kapitel der Genesis zusammen – Luther zielt zuerst und zuletzt auf das »aller Kreatur vorausliegende, ursprüngliche Wort Gottes«.
Aber was damals vor allem die Theologen Roms provozierte, provoziert es heute nicht auch die eigene Kirche, die, die sich immer noch auf den Namen Luthers beruft und ein Jubiläum feiert, das seiner Reformation gilt? Denn wie viele theologische Äußerungen und bibelferne Deutungsexzesse der Evangelischen Kirche in Deutschland, Denkschriften genannt, besonders in letzter Zeit, halten dem radikalen Schriftprinzip des Reformators und ihrem Normenkanon, Mensch und Gesellschaft betreffend, wirklich stand?
»Sola scriptura«? Das war ja kein Angebot an den Zeitgeist, das war, als Formulierung und Programm, nichts anderes als Teil jener Assertio (»Freiheitserklärung«) von 1520 gegen die von Leo X. ausgestellte Bannandrohungsbulle »Exsurge Domine«. Wenig später wird Luther, dem Wort Gottes und nur ihm vertrauend, sie öffentlich verbrennen.

Der Autor ist Schriftsteller und Theologe, er steht der evangelischen Bruderschaft
St. Georgs-Orden vor.

Autor:

Kirchenzeitungsredaktion EKM Süd

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