Merry Christmas - eine Weihnachtserzählung

Foto: Maria Landgraf

Immer wenn ich »Merry Christmas« lese oder höre, denke ich an Weihnachten im Erzgebirge und an eine außergewöhnliche Weihnachtsgeschichte, die ich im Jahr 2001 gehört hatte.


Von Christian Metzner

Wann immer es sich machen lässt, verbringe ich dort Weihnachten, weil es in dieser Gegend besonders schön ist. Jedes Mal bin ich in Hammerunterwiesenthal, einem sehr kleinen beschaulichen Ort, der unterhalb des Städtchens Oberwiesenthal liegt.
Die Wälder scheinen endlos und sind geradezu märchenhaft verschneit. In der Erzgebirgsgegend ist alles um Weihnachten herum besonders idyllisch, und die Gegend ist zu Recht als das deutsche Weihnachtsland bekannt. Die Zeit scheint dort stehen geblieben zu sein, und alle paar Jahre werde ich wieder in ihren Bann gezogen.
Es sind nicht die Gegend und die Atmosphäre allein. Es sind auch die Menschen mit ihrem urigen sächsisch-erzgebirgischen Dialekt und ihrer freundlichen Art. Einige von ihnen treffe ich immer am Stammtisch im Dorfwirtshaus.
Es geschah eines Abends am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 2001. Wie immer unternahm ich am Nachmittag eine weihnachtliche Winterwaldwanderung. Mein Ziel war der Kreuzbrückfelsen. Auf dem zuge­schneiten Weg bin ich fast niemandem begegnet, nur ein Skilangläufer kam mir entgegen, der mir freundlich zunickte. Ich verließ die Wege und betrat weiter oben Pfade, auf denen unberührter Tiefschnee lag. Ich schaute auf eine zauberhafte Landschaft. Eine fast unwirkliche Stille lag auf der so friedlich und schön anmutenden Natur. Der kleine Felsen, der eigentliche Gipfel, schien inmitten der Fichten etwas unwirklich, von den meisten wurde er auch überragt. Er war unter einer Schneehaube versteckt, die glitzerte wie Zuckerguss. In dieser schneeverzauberten Idylle verweilte ich einige Minuten.
Beim Abstieg hörte ich aus der Ferne die Fichtelbergbahn bimmeln. Als ich den Wald verließ, tauchten die ersten Häuser in der Ferne auf. In fast allen Fenstern leuchteten die fürs Erzgebirge typischen Lichterbögen, die Menschen hier nennen sie Schwibbögen. Sie sind seit jeher Ausdruck der Sehnsucht der Bergleute nach Tageslicht. Das bekamen sie während der Wintermonate über Wochen kaum zu sehen. Diese Schwibbögen sind für mich der Inbegriff des erzgebirgischen Weihnachts­charmes: gemütlich, heimelig, aber nicht aufdringlich.
Am Ende der Wanderung war ich an meinem abendlichen Ziel angelangt, dem Dorfwirtshaus »Rotes Haus«. Im Vorraum stampfte ich mir den Schnee von den Stiefeln und trat in die Gaststube ein. Mir wurde gleich warm. In einer Nische war ein verträumt wirkendes kleines Weihnachtsdorf aus Holz aufgebaut. Auf einem Tischchen in der Mitte der Stube drehten sich die Figuren auf dem Karussell der kleinen Holzpyramide, angetrieben durch winzige Propeller, die von der Wärme brennender Kerzen bewegt wurden. Sie stellten Szenen aus der Weihnachtsgeschichte dar. Aus den Mündern der Räuchermännchen zog wie Fäden der blaue Weihrauch zur Decke empor. Im Radio spielten sie »Stille Nacht«.
In einer Ecke an einem großen, runden Tisch entdeckte ich Manfred, ein damals etwa 80-jähriger Erzgebirgler mit sonnigem Gemüt und weißen Haaren.
»Glück auf!«, grüßte ich und klopfte auf den Tisch. Das sagen hier alle immer.
»Glück auf!«, erwiderten Manfred und die beiden anderen Männer am Tisch wiederholten den Gruß der Erzgebirgler, der die jahrhundertealte Bergbautradition verrät. So setzte ich mich zu ihnen und wünschte allen »Frohe Weihnachten«.
»Und ich wünsche euch allen Merry Christmas«, erwiderte Manfred.
Erstaunt sahen alle am Tisch ihn an, und es folgte eine kurze Stille. Wir fragten uns, warum ausgerechnet Manfred uns auf Englisch ein frohes Fest wünschte. Da begann Manfred zu erzählen: Es war im Januar 1945, als sie meinen kleinen Bruder Erwin zur Wehrmacht holten. Er war damals erst siebzehn.« Manfred schüttelte den Kopf bei der Erinnerung. »Der Abschied war fürchterlich. Unsere Mutter weinte, der Vater war wie versteinert. Erwin kam an die Westfront. Danach verlor sich seine Spur, und wir hörten nichts mehr von ihm. Kein Brief hat uns erreicht, auch keine Meldung, dass er vermisst, getötet oder gefangen genommen wurde. Das schmälerte unsere Hoffnung auf ein Wiedersehen. Wir wussten ja, dass die Amerikaner und Engländer ihren Kriegsgefangenen gleich am ersten Tag im Lager eine Karte gaben. Darauf konnten sie ihre persönlichen Daten notieren und nach Hause schicken. Das hatte sich he­rumgesprochen. Wir hatten aber nichts bekommen, gar nichts, und das war das Zermürbende – die Ungewissheit, diese quälende Ungewissheit. Wir hatten von keinem ähnlichen Fall gehört.
Gleichzeitig war aber immer Hoffnung da, weil auch keine schlimme Nachricht gekommen war. So wurde unser Briefkasten für meine Familie zum Symbol für Hoffnung und Zuversicht. Dieses rostige Kästchen mit dem klappernden Deckel und dem quietschenden Türchen wurde zum Zen­trum unseres Alltags. Jeden Tag ging ich vors Haus, öffnete mit zittrigen Händen das Briefkastentürchen und sah immer wieder die gleiche Leere, immer wieder das gleiche enttäuschte Gesicht meiner Mutter im Hausflur, wenn ich hereinkam.
Und abends blickte ich stets in das traurige Gesicht meines Vaters. Jedes Mal, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, fragte er aufs Neue voller Hoffnung: »Und, Post?«
Dabei wusste er, dass wir von uns aus schon etwas gesagt hätten.
Wann immer einer aus der Familie am Nachmittag das Haus verließ oder wieder zurückkam, blickte er auf diesen Briefkasten, dachte an Erwin und an das Wort: morgen. Morgen wird es was, morgen muss doch was kommen, morgen wird doch was kommen …!
Jeden Abend sah meine Mutter noch einmal erwartungsvoll zum Briefkasten, bevor sie die Fensterläden schloss.
Am Karsamstag 1946 war alles anders. Ich zog wie seit Monaten das
Türchen auf und fand einen seltsamen alten Brief. Er war zerknittert und schon vergilbt, die Farbe des Poststempels war verwischt, das Datum gerade noch lesbar: »8. Dec. 1945«. Auch die Tinte des Absenders war bereits mehrfach in Kontakt mit Wasser geraten. Verschwommen las ich die Worte:
»ALGONA P. W. CAMP USA«. Blitzschnell schossen mir die Gedanken Westfront – Erwin – USA – Gefangenenlager – Leben durch den Kopf, Leben! Ungläubig las ich diese Worte noch einmal. Hastig riss ich den Umschlag auf. Darin war kein Brief, sondern eine Weihnachtskarte – eine Weihnachtskarte an Ostern –, und sie war von meinem Bruder! Wer weiß, wo die so lange gelegen hatte? Wer weiß, wer die so lange vergessen hatte?
Darauf stand gedruckt: »Merry Christmas«.
Mir schossen Tränen der Erleichterung in die Augen, alles verschwamm, und ich konnte erst nicht weiterlesen. Der Text schien in Eile geschrieben zu sein. Ich las weiter: »Alles unversehrt überstanden, verschifft in Kriegsgefangenenlager USA, geht mir gut, komme bald heim, Erwin.«
Ich drehte mich um, sah meine Mutter durch die offene Tür im Hausflur stehen, hielt die Karte in die Höhe und schrie: Erwin, von Erwin, eine Karte von Erwin!
Das war für unsere Familie der glücklichste Moment seit Jahren. Alle redeten durcheinander. Wir fragten uns, wie lange er an der Front gewesen war, ob es Tage, Wochen oder gar Monate gewesen waren, ob er gefangen genommen wurde oder ob er sich wohl ergeben hatte. Und wir rätselten, in welchem Teil der USA der Ort Algona wohl sein mochte …
Mit meiner Mutter und meinem Vater saß ich lange am Wohnzimmertisch. Wieder und wieder haben wir die Weihnachtskarte in die Hand genommen. Und immer wieder lasen wir die beiden Worte »Merry Christmas«. Da stand mein Vater plötzlich auf und verschwand. Später kam er mit einem Tannenbaum wieder. Ich sehe ihn heute noch in der Tür stehen, wie er sagte: »Heute feiern wir Ostern und Weihnachten zusammen!«
Mich durchflutete ein wärmendes Gefühl. Meine Mutter brachte die Weihnachtsdekoration aus dem Keller, wir schmückten den Baum und am Abend sangen wir Weihnachtslieder.
Ein Weihnachtsfest mussten wir noch ohne ihn feiern. Das zweite feierten wir dann zusammen mit Erwin.
Seit Ostern 1946 haben wir in der Familie nicht mehr »Frohe Weihnachten«, sondern immer »Merry Christmas« gesagt. »Merry Christmas« war nicht nur ein froher Weihnachtswunsch, sondern das Sinnbild für die Hoffnung, die die Verzweiflung besiegt hat.
Als Manfred endete, herrschte Stille am Tisch. Wir waren sprachlos, so ergriffen waren wir. Wie aus der Ferne hörten wir aus dem Radio »O du fröhliche …«
Immer, wenn ich die Worte »Merry Christmas« lese oder höre, sehe ich Manfred dort sitzen.

Aus: Unvergessene Weihnachten. Band 12; 29 besinnliche und heitere Zeitzeugen-Erinnerungen aus den Jahren 1925 bis 2009, Zeitgut Verlag, 192 S., ISBN 978-3-86614-266-4, 6,90 Euro

Autor:

Adrienne Uebbing

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